Zwei mögliche Wege in der Pädagogik. Ein Gespräch.

Der Eine: „Wie können Sie glauben, im Umgang mit den kleinen Kindern gänzlich auf pädagogische Formen verzichten zu können? Eine solche Formlosigkeit führt doch zu einem völligen Chaos. Der Wille der Kinder muss in diesem Alter nach meiner Auffassung durch die Bildung von guten Gewohnheiten auf das spätere Leben vorbereitet werden.“

Der Andere: „Lieber Freund, ich habe ganz andere Erfahrungen, und dies durch einige Jahrzehnte und mit vielen Kindern. Ich will es so sagen, damit Sie einen Vergleich haben: Wie gehen Sie mit Ihrer Frau, mit Ihren Freunden und Arbeitskollegen um? Haben Sie Ihnen gegenüber pädagogische Absichten und Formen? Natürlich nicht. Und sind sie deshalb im Umgang miteinander chaotisch und formlos? Doch hoffentlich nicht. Was aber gibt Struktur und Form, wenn es nicht pädagogische Absicht ist? Es ist der Respekt, der durch die Wahrnehmung der jeweiligen Persönlichkeit entsteht, der Form und Gestalt im Umgang miteinander gibt. Nichts anderes geschieht bei uns im Umgang mit den kleinen Kindern.“

Der Eine: „Nun vergessen Sie eines: kleine Kinder sind doch unerfahren und ungebildet. Sie können bei ihnen doch nicht voraussetzen, dass sie sich gesittet benehmen wie ein gebildeter Erwachsener. Kinder müssen doch erst die Umgangsformen lernen, die sie bei ihren Freunden voraussetzen.“

Der Andere: „Lieber Freund, meine Sicht und meine Erfahrung ist eine ganz andere. Sie hätten Recht, wenn die Kinder wirklich nur das wären, was sie mit Augen sehen: körperlich kleine Wesen, die sich nur durch unser pädagogisches Zutun entwickeln. Ich gehe einen anderen Weg. Ich spreche schon die kleinsten Kinder als das an, was sie auch sind, aber unsichtbar, nämlich eben gerade aus der himmlischen Welt gekommene Botschafter, die Kenntnisse haben von neuen, kommenden Verhältnissen, die sie in der Mitte ihres Lebens vorfinden werden und die ich als früher Geborener noch nicht kennen kann. Mein Umgang mit ihnen ist demnach so: ich sehe ein kleines Kind, aber ich weiss gleichzeitig, dass eine hohe geistige Gestalt dieses Kind umgibt, die eigentliche Individualität. Sie spreche ich an, wenn ich mit dem kleinen Kind spreche. Meine Worte wirken kindgemäss, aber meine Haltung, gleichsam das Wie meines Sprechens ist erfüllt mit der Ehrfurcht vor der Individualität, der ich lernend gegenüberstehe. Und dieses Sprechen, dieser Umgang mit dem Kind in allen Lebensbereichen, die sich täglich ergeben ist immer individuell, immer neu, jeden Augenblick und jeden Tag anders und überraschend, für das Kind wie für mich. Wenn sich daraus auch Gewohnheiten bilden – und sie bilden sich -, dann sind es solche, die nicht von mir gegeben sind, sondern die entstehen und zwar aus dem Zusammenwirken zwischen der Individualität des Kindes und mir. Somit bildet diese Individualität ihre Erfahrungen und Gewohnheiten selbsttätig. Und darauf allein kommt es mir an.“

Der Eine: „Mir wird schwindlig, wenn ich Sie so reden hören. Da scheint mir ja aller sichere Grund zu fehlen, der nur in der sich immer wiederholenden Gleichheit der Verhältnisse liegen kann. Nur in der sicheren Wiederkunft der gleichen Lebens- und Zeitformen kann das Kind in der heutigen zerissenen Welt sich geborgen und getragen fühlen. Was Sie mir ausmalen, wirkt wie eine beliebige, willkürliche Welt, bei der ja, wenn viele Kinder beisammen sind, ein Durcheinander von solchen individuellen Situationen entsteht, die keinen gemeinsamen Nenner haben. Gleicht das nicht ein wenig der antiautoritären Pseudopädagogik der einstigen Studentenbewegung?“

Der Andere: „Das Gegenteil ist der Fall. Die damalige Ansicht war, dass Freiheit entsteht durch blosses Freilassen, wobei die Erwachsenen schwätzend und untätig in der Nähe der Kinder herumstanden. Dadurch entstand ein geistig-seelischer Leer-Raum und die Kinder reagierten entsprechend: mit Chaos. Das nannte man dann Freiheit. Das Gegenteil aber geschieht, wenn die tragende Zeitgestalt um die spielenden Kinder nicht aus pädagogischen Absichten der einen oder anderen Richtung entsteht, sondern aus der wohlgeordneten Arbeitstätigkeit der Erwachsenen. Wenn wir die Kulturgeschichte anschauen, dann waren die besten Verhältnisse, in denen Kinder, vor allem kleine, aufwuchsen, die auf einem Dorf oder im Zusammenhang mit einer Werkstatt mit reger und geregelter Arbeitstätigkeit. Die Kinder lebten und spielten in den Zwischenräumen in der völligen Freiheit des Spieles. Das zeigt das Studium von vielen Biographien. Das freie Spiel aber spiegelte die Regelmässigkeit und Gesetzmässigkeit der dörflichen und handwerklichen Arbeit und wurde dadurch gehalten und getragen.“

Der Eine: „Mit einigem Widerstreben, doch willig folge ich ihren Gedanken. Aber leben wir nicht in einer völlig anderen Zeit und ist das nicht nostalgisch und weltfremd, von der scheinbar idealen Welt einstiger Dorfgemeinschaften zu schwärmen, wo unsere Kinder einer gänzlich gegensätzlichen Zukunft entgegengehen?“

Der Andere: “ Wie aber steht Ihre pädagogische Form im Verhältnis zu dieser Zukunft? Wie wollen Sie heute wissen, wie die guten Gewohnheiten, die Sie den Kindern beibringen, in zwanzig, dreissig Jahren Grundlage eines Lebens sein sollen, das weder Sie noch ich kennen, wovon wir aber einiges ahnen können? Wer alleine weiss etwas von dieser Zukunft? Doch nur die Individualität allein. Somit muss und will ich lernen von der Individualität, die mir gegenüber steht, um abzulesen, was sie von mir für ihre Lebensbasis braucht. Nur aus dem Abgelesenen, so weiss ich, dürfen meine Handlungen kommen, um dem Kind für die kommenden schweren Zeiten die Durchhaltekraft zu ermöglichen, die nur aus der Mitte des im Himmel vorbereiteten Lebensmotives kommen kann. Da aber alle Kinder, die in meinem Kindergarten sind, etwa gleich alt sind, also ihre geistige Vorbereitung zur gleichen Zeit erhalten haben, liegt über diesen Kindern etwas Gemeinsames. Wenn ich dieses Gemeinsame erspüre, dann gibt es kein Vielerlei individueller Situationen, die sich einander widersprechen, sondern zu erleben ist die Vielzahl einzelner Stimmen Die aber verlangen nach einer sozialen Musikalität, um zu einer Gemeinsamkeit zu gelangen, die fliessend, aber dennoch stimmig, tragend und einhüllend ist. Man kann diese alles durchdringende Musikalität auch Humor nennen, der durchaus auch den Ernst des Lebens enthält.“

Der Eine: „Jetzt wird es mir zu kompliziert. Wenn Ihre Auffassung richtig ist, dann setzt sie aber zu viel bei den Erziehern voraus. Wer hat schon solche Fähigkeiten, die sie hier beschreiben? Ich sehe nur die Möglichkeit, eine feste und durchgeformte Methodik zu entwickeln, die vielen Menschen passt, die erlernbar ist auch von solchen, denen die Fähigkeiten abgehen, die sie verlangen. Denn an vielen Orten wird meine Art der Pädagogik von Eltern verlangt, die sicher sein wollen, dass mit den Kindern nicht experimentiert wird und Ordnung und Sicherheit gewährleistet ist.“

Der Andere: „Hier trennen sich leider unsere Wege. Meine Hoffnung ist und die lange Erfahrung bestätigt sie: dass das Spielalter der Kinder uns Erwachsenen als Quelle einer neuen Kultur zu dienen vermag. Ich weiss, dass alle Vernunftgründe gegen meine Ansicht sprechen. Aber die geistige Wirklichkeit folgt nicht den Gründen der Vernunft. Wenn auch das Dorf, der Handwerker im alten Sinn verschwinden werden, so aber niemals die wahre, musikalisch begründete Arbeit als Element der Umwandlung der Erde. Leistung gegen Widerstand und daraus entstehende handgreifliche Produktivität werden, gerade im Zeitalter der Mechanisierung und Digitalisierung, vom Menschen neu gelernt werden müssen. Das Spiel als das wahre Element der Freiheit kann sich nur auf dem Hintergrund einer erneuerten Arbeitshaltung entwickeln. Stehen wir aber staunend und verehrend vor der Quelle des Spieles, dann erkennen wir darin den Neubeginn der Kultur. Alle Künste, alle Wissenschaften, Religion und Moral keimen in jedem echten Spielmoment. An uns aber liegt es, die Fähigkeiten zu erlangen, dies im Einzelnen zu erkennen. Denn allein dieses staunende und zeugenhafte Erkennen gebiert die Kultur, die Kulturfähigkeit des werdenden Menschen in kindlicher Gestalt. Seien Sie vernünftig und gehen Sie erprobte und für Sie gewohnte Pfade. Noch eine kleine Weile herrscht herrscht hoffentlich die Möglichkeit geistiger Freiheit für Sie und für mich. Ich wähle das Abenteuer der ständigen Neuentwicklung, geführt von den Kindern, die ich kenne. Leben Sie wohl.“

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