Entstehung der Kindergartenpädagogik aus dem Impuls der Kallias Schule

Im notwendigen Gegenstrom zu unserer Zeit lebt und erzieht der die Kinder, der wesenhaft an das Spiel seiner eigenen Kindheit anschliesst. – Ernst Allvar

Der Kindergarten-pädagogische Ansatz entstand ganz pragmatisch aus einer Lebenssituation. Es war Anfang der achtziger Jahre, als Maria Luisa Nüesch, damals Marlies Nüesch, aus Graubünden in der Schweiz  meine Arbeit mit autistischen Kindern in Schweden erlebte, die darauf ausging, in diesen isolierten Kindern das menschliche Spiel zu wecken, das ihnen ganz abgeht. Es war somit keine im engeren Sinn therapeutische, sondern eine heilend künstlerische Arbeit, die sie erlebte in dem Heilpädagogischen Institut Morapark in Järna. Sie äusserte den Wunsch, dass ich nach Graubünden käme, um mit ihr einen Kindergarten aus dem schillerschen Spielelement aufzubauen.Nach einigem Zögern folgte ich diesem Ruf. Es entstand ein Kindergarten zunächst an der Rudolf Steinerschule in Chur, der dann nach Malans zog, in die Bündner Herrschaft. Da mir die Arbeit mit gesunden Kindern wenig vertraut war und meine Mitwirkung eine völlig offene und freilassende, so hatte ich, um nicht beobachtend als Fremdkörper bei den Kindern zu sitzen, nur zwei Mittel zur Verfügung. Das eine war die eigene Arbeit, das Schnitzen von Stöcken, die ich später zu Klang-, Wurf- und Kampfübungen mit Erwachsenen benutzte. Aus diesem entwickelte sich das Arbeitselement in der Nähe der spielenden Kinder als eine der später auch gedanklich ausgearbeiteten Grundlagen einer allgemeinen Kindergartenpädagogik.

Dazu kamen die Erfahrungen, die ich in Schweden mit autistischen Kindern und dem Umgang mit ihrem Willen und ihren Leibern gemacht hatte. Daraus entstand ein lustiges und allgemeines Balgen mit oft der gesamten Gruppe, in das ich dann Elemente des Fassens und Lassens so einfliessen liess, dass der Wille der Kinder gleichzeitig eine Regulierung erfuhr. Es entstand so ein Erüben des Rechtslebens in der leiblichen Auseinandersetzung. Die kräftigen (und die Bündner Bergkinder waren es!) erlebten die stärkere Kraft eines Erwachsenen, welcher aber seine Übermacht nicht missbrauchte, sondern regelnd einsetzte. Die wenigen eher zaghaften Kinder  bekamen auch Lust und wurden leichter im Durchgang durch die Winkel und Engen zwischen Armen und Beinen durchgelassen. Manche eher aggressive Kinder blieben wie zufällig im Getümmel eine Weile länger hängen als andere, bis sie  den Widerstand überwunden hatten.

Was zu entwickeln war (alles war ja Neuland für mich), war allezeit vorhandener Humor und in allen Handlungen der Sinn für Gleichmass und Gerechtigkeit. Im Nachhinein kann ich sehen, dass es der früher geübte Umgang mit den Elementen des Wassers, der Musik, aber auch des Plastischen war, das mir half, das Balgen zu einem künstlerischen Element zu entwickeln.

Das Zeichen erreichter Qualität war das bei allen Kindern entstehende Behagen, eine gesättigte Befriedigung, die auch eine Katharsis enthielt und zu tieferem und besserem Spiel untereinander danach führte. Auch die Eltern konnten dieses Element erfahren an Samstagvormittagen, wobei die Mütter es den Vätern überliessen, mit vor allem den Buben und mir zu balgen und zu kämpfen. Wobei es mir auch darum ging, dieses spielerische Körper- und Willenselement in den Familien einzuführen. Weiteres dazu in meinem Aufsatz „Das Kind und sein Leib“.

Das Schnitzen von Stöcken als ein Arbeitselement ohne pädagogische Absichten in der Nähe der Kinder war der Beginn einer ganzen Erfahrungswelt, die sich für mich allmählich immer mehr öffnete. Blicke in die Kulturgeschichte zeigten, dass das Spiel der kleinen Kinder immer dann am besten gedieh, wenn es im Kraftfeld von ernsthaft arbeitenden Menschen seinen Platz fand.

Von zwei  Seiten erfuhr ich später eine starke Bestätigung meiner Entdeckung. Die eine war ein von Freunden aufgefundener Brief einer der Begründungspersönlichkeiten der Waldorfkindergartenpädagogik, Anne Schnell (1913-1994), die Anfang der achtziger Jahre verantwortliche Pädagogen dazu aufrief, einen Hinweis von Rudolf Steiner bezüglich der Wichtigkeit eines neuen Arbeitsansatze für die Pädagogik im Allgemeinen zu beachten. (Siehe mein Buch „Was ist die Wirklichkeit des kleinen Kindes“ Verlag Die Kooperative Dürnau). Leider wurde dieser Aufruf  bis heute nicht beachtet.

Die zweite Bestätigung erfuhr ich durch ein Werk des Pädagogen Heinrich Marianus Deinhard, (1821-1880) „Kommentare zu Schillers ästhetischen Briefen“, wo er unter anderem über das Verwandtschaftsverhältnis von Spiel und Arbeit schreibt. Dieses überaus schwer zu lesendes Werk enthält die Grundlagen einer neuen Pädagogik, welche übergeht in eine notwendige Volksbildung.

Im später begründeten Kindergarten Bienenkorb wurde und wird dieses Verhältnis zur begleitenden Arbeit nicht nur durch den heutigen Leiter Andreas Butz und zwei Praktikanten weiterentwickelt, die eine handwerkliche Berufsausbildung mitbrachten, sondern auch durch Arbeitsepochen von eingeladenen Freunden, wie zum Beispiel des holländischen Instrumentenschmiedes  Dick Verbeeck, der in Abständen im Garten unseres Kindergartens Klangsspiele der verschiedensten Art im Beisein der Kinder schmiedet, des Kölner Bildhauers Max Meuter( 1933-2007), der mehrere Male eine Woche bei den Kindern an einer Marmorskulptur arbeitete und des australischen Inversionsmathematikers Robert Byrnes, der  mathematische Bewegungselemente im Kindergarten herstellte.

Bei der Begründung der Freien Schule im Elztal, Schwarzwald, ab Ende der achtziger Jahre, war es der besagte zur Schule  gehörende Kindergarten, später Bienenkorb genannt, der begründet und weiterentwickelt werden wollte.

Zunächst war auffällig, dass die deutschen Kinder aus dieser Gegend ganz andere Eigenschaften und Fähigkeiten hatten, als die damaligen in der Schweiz. Schon daraus wurde klar, dass nicht nur alle Individualitäten verschieden sind, sondern auch nach Gegenden und Landschaften  die Menschen andere Voraussetzungen mitbrachten und bringen. Dazu kam durch die vielen Jahre, dass auch in der Zeitentwicklung immer neue Schübe von Kindern mit neuen Fähigkeiten, aber auch Empfindlichkeiten sich zeigten.

Wie es also möglich war, schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts  in Stuttgart ein allgemeingültiges und in seinen Grundzügen unveränderliches pädagogisches Schema für alle Kinder aller Länder und Zeiten im Namen der anthroposophischen Pädagogik festzulegen, mag verstehen und begründen wer will. Da ich diesen Ansatz, der doch immer noch als die klassische Waldorfkindergartenpädagogik betrachtete wird, erst später kennenlernte, war ich nicht gehindert, meinen Weg nach Erfahrung und Idee auf der Grundlage des Ethischen Individualismus der Philosophie der Freiheit weiter zu gehen.

Über zwanzig Jahre sind nun in ständiger Weiterentwicklung vergangen und teilweise in meinen drei Büchern über Kindergartenpädagogik niedergelegt. Denn jedes Kind verlangt im Grunde eine neue Pädagogik, jedes Elternpaar eine eigene Beziehung. Besonders die allein Erziehenden bedürfen der besonderen Aufmerksamkeit, indem die Kindergärtner den fehlenden Elternteil zu ersetzen versuchen.

Für die älteren Kinder des Kindergartens war ein Modell als Übergang zur Schule zu entwickeln, das ich zunächst seit 2000 durch sieben Jahre mit den Kindern zusammen bearbeitete, dann dokumentierte als Projekt Sinnbildung im Kindesalter, wonach eine krankheitsbedingte Pause eintrat. Ab 2011 führe ich dieses Projekt unter geänderten Umständen als Werner-Werkstatt, (wie die Kinder sie nennen),  weiter.

Die früheren Praktikanten bei uns, Tobias Ramming und Oliver Bergmann  gestalten das Element begleitender Arbeit auf ihre und sehr gute Weise weiter an einer Waldorfschule in Berlin, der erstere als eine Vorschulklasse, der zweite in einem Hort derselben Schule.

Wo früher die älteren Kinder  im selben Raum als Vorbilder für die jüngeren mit mir arbeiten durften, wenn sie danach verlangten und die jüngeren sehnsuchtsvoll dann noch ein Jahr warten mussten, um der Ehre der Arbeit mit dem Erwachsenen, „der Sachen konnte“, teilhaftig zu werden, ist heute durch die neuen behördlichen Bestimmungen, bei der die Kinder frühzeitig den Kindergarten verlassen und durch eine Überzahl sehr junger Kinder, die angemeldet werden, die Sozialgestalt des Kindergartens verändert.

Das Element des Aufschauens zu den Älteren und die dadurch erfolgende Wirkung der Erziehung durch das Soziale, fallen somit fort. Meine Arbeit findet deshalb zurzeit in einer eigenen Werkstatt neben dem Kindergarten statt, an welcher Kinder aus der Unterstufe der Freien Schule Elztal teilnehmen, teilweise solche, die früher im Kindergarten waren. Diese Arbeit ist freiwillig für die Kinder.

Will ich die Erfahrung vieler Jahre im Kindergarten in einem Satz zusammenfassen, dann so:

Kinder im ersten Jahrsiebt, also im Spielalter, brauchen nicht eine Pädagogik, die sich mit ihren guten Absichten auf den Willen der Kinder richtet, sondern sie brauchen in ihrem Umkreis einen Kulturansatz von Erwachsenen, welcher die Kinder freilässt, das nachzuahmen, was die Erwachsenen durch ihre eigene Entwicklung in der modernen Zeit an Neuem und Produktivem für die Menschheit zu erzeugen vermögen. Allein eine solche Arbeitshaltung wirkt willens- und zukunftbildend auf die Nachahmungsfähigkeit der Kinder, weil sie kultureller und gesellschaftlicher Wirklichkeit entspricht. 

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