Die Bedingungen einer sozialen Kunst und die Grundlagen der Kalliasschule des gemeinsamen Bewegens im Spiel

Das soziale Urphänomen

Das erste Gesetz des guten Tons, der Schönheit im Umgang miteinander, ist: Schone fremde Freiheit, das zweite: Zeige selbst Freiheit. 

Die pünktliche Erfüllung beider ist ein unendlich schweres Problem, aber der gute Ton fordert sie unerlässlich….

Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen Tanz.

Ein Zuschauer aus der Galerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durchkreuzen und ihre Richtungen lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstoßen. Alles ist so geordnet, dass der eine schon Platz gemacht hat, wenn der andere kommt, alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunstlos (absichtslos) ineinander, dass jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint und doch nie dem anderen in den Weg tritt.

Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des anderen.

 Friedrich Schiller    Kallias oder über die Schönheit   1792/93

 

Inhalt

Lebenswege zu einer sozialen Kunst

Das Soziale zwischen Unterwerfung, Chaos und Kunst

Bedingungen der Freiheit

Auflösung des Gegensatzes von Willensbehauptung und

Willensschonung

Das soziale Denken

Das Ergreifen des Leibes von aussen

Die Schöpfung aus dem Nichts

Die Dreiteiligkeit der Zeit

Die Schicht des Schicksals

Sechs Künste und die siebte

Die Verwandlung des physischen Leibes

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Sechs Künste in der siebten

Der Kampf aller gegen alle und der Gute Wille

Die soziale Kunst, die Natur und die Kinder

Der neue Arbeitsansatz

Das soziale Hauptgesetz und die siebte Kunst

Das Material der siebten Kunst

Der Ästhetische Zustand

 

Lebenswege zu einer sozialen Kunst

Wer geht, ist bereits in ihr. Wer den Erdmittelpunkt spürt, ist mit allen Gehenden zusammen: alle Menschen sind im gleichen Abstand, dem Erddurchmesser, miteinander verbunden, ob sie nebeneinander oder auf der anderen Seite der Erde stehen. Die Erdenwege lehren uns die soziale Kunst. So trägt uns die Erde und so lernen wir, gemeinsam sie zu tragen. Ohne Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung ist keine soziale Kunst. In ihr wirkt bereits Goethe, der Lehrer der Gesetze des Lebendigen. Ohne Steiners Philosophie der Freiheit ist keine soziale Kunst, denn von der Denkfreiheit des einzelnen Menschen geht der Weg in die Glieder, empfindend in die Fingerspitzen, wollend in die rhythmisch arbeitenden Hände und in die immer gehenden Füsse.

Wer im elften Lebensjahrsiebt dies als Erfahrender zu schreiben versucht, hat vor allem gelernt: von Julius Knierim, dem großen Musiker, Zeitkünstler, dem hingegebenen Heilpädagogen und dem innigen Gestalter von Mozarts Zauberflöte – durch viele Jahre. Hat gelernt von Pär Ahlbom, der in der nordischen Lebenswelt die Leibfreiheit und die Freiheit der musikalischen Improvisation darlebte – für den hier Lernenden während eines viertel Jahrhunderts. Er hat gelernt von der Weisheit des  Wassers durch viele Jahre und von der Wandlung der Wolkengestalten, hat gelernt von den sozial zutiefst Behinderten, den Autisten und von denen, die in Drogen gefangen sind. Die politischen Systeme und fertige Institutionen als soziale Unkunst, als Vorstufe der Kunst die Schweizer Eidgenossenschaft, sind Lehrer gewesen und sind es immer noch.

Und was ist der Kindergarten anderes, als der Ort, an dem das Entstehen der sozialen Kunst keimhaft zu erlernen ist? Ach, würden wir alle betuliche Pädagogik dahingeben, um mit den Kindern soziale Künstler zu werden. Mögen sie die Prüfer dessen sein, was wir als Kunst aus dem Bann des Vergangenen zu erlösen vermögen, um es im Fluss des Entgegenkommenden zu beleben.

 

Das Soziale zwischen Unterwerfung, Chaos und Kunst

Gleich einem Ei des Kolumbus hat Friedrich Schiller in seiner kleinen Schrift „Kallias oder über die Schönheit“ das Urbild der sozialen Kunst beschrieben als eine Bewegungskunst. Wie wir sehen werden, sind in diesem Urbild alle Elemente vorhanden, die eine neue Kunstart zu begründen vermögen. Allerdings bedarf es der anthroposophischen Geisteswissenschaft, um deren Bedingungen aus dem Schillerschen Urbild heraus ablesen zu können.

Die mitmenschlichen, die sozialen Verhältnisse zerfallen in unserer Zeit in dem Maße, als alte Ordnungen und Gewohnheiten nicht mehr zu tragen vermögen. Zwei Kräfteverhältnisse sprengen die überkommenen Ordnungen: Einerseits sind es zerstörende Kräfte, die der materialistischen Zivilisation zugrunde liegen, welche das Chaos herbeiführen. Andererseits sind es auch neue, zukünftige Kräfte, die noch keine Gestalt gefunden haben, und ziellos, wie sie sind, zunächst zum Chaos beitragen

Im beginnenden sozialen Chaos sind einerseits die hilflosen Versuche sichtbar, durch Bestimmungen und Gesetzgebungen vorübergehende Ordnungen herzustellen. Und andererseits ist die langfristige, weit in der Vergangenheit wurzelnde Anbahnung einer bevorstehenden Weltordnung endgültiger Art zu erkennen. Sie soll das kommende Chaos bändigen, indem sie den Menschen vereinfacht und die Fähigkeit ausschaltet, welche von den dahinterstehenden Mächten längst verworfen wurde: die menschliche Freiheit. Die soziale Kunst wird sich daran erweisen, dass sie eine Quelle der Freiheit, der Einzelnen wie der Gemeinschaft, sein wird.

 

Bedingungen der Freiheit

Der erste Freiheitsteil in Schillers urbildlicher Beschreibung liegt zunächst in dem „Behaupte deinen Willen“. Willensbehauptung als Ausleben dieser Freiheit bildet jedoch nicht das Soziale, sondern zerstört es; wie auch blosse Schonung des Willens der Anderen die Gemeinsamkeit aufhebt. Wo die Behauptung des Willens zu einer blinden Aktivität führt, verfällt das Schonen allein in Passivität. Freiheit im Sozialen entsteht dann, wenn in das Binden und Lösen der beiden Gegensätze das Bewusstsein der Überschau über die Verhältnisse eintritt. Erst wenn jeder Einzelne aus dieser beweglichen und in den Bewegungen entstehenden Überschau empfindungsmässig handelt – sich behauptend, die Anderen schonend und deren Schonung geniessend – fühlt er sich frei. Ohne diese aus der Gesamtempfindung sich bildende Überschau entsteht keine wirkliche Freiheit und ohne diese keine soziale Kunst. Nur in dieser Freiheit sind Alle gestaltende und mitgestaltende Künstler. Was im staatsbildenden Sinne beispielsweise einstmals die Schweizer Eidgenossenschaft ausgemacht hat, als die freie Teilhabe Aller am politischen Geschehen, ist hier künstlerische Bewegung geworden, ist Spiel als ständiges Entstehen und Vergehen von sozialen Gestaltungen, aus der empfundenen Freiheit des Einzelnen.

 

Auflösung des Gegensatzes von Willensbehauptung und Willensschonung

Sich durchsetzen und mit seinem Willen nachgeben, das sind die beiden polaren sozialen Grundkräfte. So wie sie ursprünglich sind, schließen sie einander aus. Sie sind in allen Konflikten enthalten, sie sind der Konflikt. Werden sie jedoch in Bewegung versetzt und treten miteinander ins Spiel, dann wird aus dem Gegensatz Ergänzung und Weiterentwicklung. So wie Kreis und Linie den mäandernden Fluss der Sinuskurve bilden, so entstehen aus Willensbehauptung und aus Willensschonung in der Abfolge Bewegungsgestalten. Was statisch einander  ausschließt und lähmt, wird dynamisch ein Hervorgehen des Einen aus dem Anderen. Was im alltäglichen Leben zu Spannungen und Konflikten führt, wird in dieser Kunst zum inneren Beweger der Gestaltungen.

Das soziale Denken

Da alle an einer Bewegung der sozialen Kunst Beteiligten mit ihrem Willen gestaltend tätig sind und das im Augenblick Gestaltete klar vor dem empfindenden Bewusstsein liegt, lebt dieser Bewusstseinsinhalt gleichermassen in allen. Alle waren gemeinsam die Hervorbringer der gleichen Bewegungsgestalt. Und wenn auch jeder diese Gestalt anders empfunden hat, so ist doch dies jedem unbestritten und gewiss: so wie im reinen Denken, das die Philosophie der Freiheit Steiners beschreibt, der Einzelne von seinem Denken sagen kann, er habe es selber als eine ursprüngliche Schöpfung hervorgebracht, so können alle, die gemeinsam eine Bewegungsgestalt im Sinne des Kallias-Phänomens hervorgebracht haben, sagen, sie seien gleichermassen an der freien, aus dem Augenblick heraus entstandenen Bewegung beteiligt. 

Sie wird damit als Gemeinschaftsgestalt, wie als individualisierte Gestalt von jedem Einzelnen erlebt. Dem Denken im Einzelwesen entspricht somit das aus den Verhältnissen empfindend hervorgegangene soziale Bewegungsgebilde dieser Kunst. Man kann dieses gemeinsame, künstlerisch bewusste, Hervorbringen einer Zeitgestalt aus dem Augenblick heraus ein soziales Denken nennen. Es ist als künstlerische Empfindung auf der gleichen Höhe des Bewusstseins, wie das reine Denken im Sinne der Steinerschen Freiheitsphilosophie es für den Einzelnen als Willensgewissheit ist. Das heisst aber auch: was im Sozialen die Entsprechung des reinen Denkens ist, wäre wirkungslos, wenn es das individuelle Denken nicht auch voraussetzte und zur Folge hätte. 

Das Ergreifen des Leibes von aussen

Wiederum aus dem Urphänomen des Kalliasschrift ergibt sich dies: indem bei jedem Bewegungsvorgang, der aus dem Augenblick heraus frei entsteht, die Aufmerksamkeit aller im jeweils zu bewältigenden Motiv liegt, vereinigen sich die Iche aller in einem Punkt, an einem Ort. Geistig gesehen sind alle Beteiligten mehr in der Problemlösung, in dem Motiv anwesend, als bei sich, in der jeweiligen Körperlichkeit. Dazu ist keine besondere Anstrengung nötig. Sondern die allen offenbare Aufgabenstellung zieht gleichsam die Iche in ihren Mittelpunkt und erzeugt von dort aus die Bewegung. Ohne Absicht, nur durch die natürliche Anordnung der Verhältnisse, tritt dadurch ein, worauf Rudolf Steiner oftmals eindrücklich hingewiesen hat: dass die Bewegung nicht durch den Leib und dessen Gegebenheiten erzeugt wird (so wie es die Wissenschaft heute behauptet), sondern dass die Ursache der menschlichen Bewegungsfähigkeit außerhalb des Leibes, im umgebenden Willen, im Ich liegt. Und dass man das Soziale seiner Natur nach erst verstehen und bewältigen könne, wenn man die ausserleibliche Entstehung der Bewegung kennt.

In Schillers Urphänomen ist die Tatsache anschaulich erlebbar: absichtslos und selbstlos sind die wahren Erzeuger der Bewegungen einer Menschengruppe dann, wenn ihr Interesse gänzlich mit dem Motiv der gemeinsamen Bewegung verbunden ist.

Der Leib jedes Einzelnen und damit auch die Leiber aller sind durch die entstehende Gesamtbewegung auf dieselbe Weise getragen, wie sie Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater“ von der Marionette beschreibt. Von aussen geführt zeigt sie Anmut, trotz ihrer hölzernen Anordnung, etwas, das der bewusst sich bewegende Mensch verliert und wieder gewinnen kann, in der Kunst. Auf entsprechende Weise entstehen Schönheit und Anmut unvermutet dann, wenn Menschen hingegeben an das Bewegungsmotiv flüssig in den Zeitstrom der Bewegungen einzutauchen vermögen und ihre Leiber dadurch frei tragen. „Schönheit ist die Erscheinung der Freiheit“ (Schiller Kallias).

Die Schöpfung aus dem Nichts

In einer Bewegung, die aus Motiven besteht, welche aus der Situation von allen Beteiligten gestaltet werden, tauchen ständig Verhältnisse, Relationen auf: zwischen den Menschen, zwischen Menschen und in den Bewegungen verwendeten Gegenständen, zwischen diesen und den im Raum oder in der Landschaft vorhandenen Gegebenheiten. Da die Bewegungsverhältnisse – nach jeweils angegebenen Spielregeln – aus dem freien Umgang mit Gesetzmäßigkeiten entstehen, bieten sie sich für jeden Beteiligten nicht nur zu Handlungen, sondern auch zum gleichzeitigen künstlerischen Geniessen an. Begegnungen, Gruppierungen, Bildhaftes, Musikalisches, Architektonisches, Mathematisches, Dramatisches  eurythmisch zu Erlebendes,– erscheinen sinnvoll, also im tieferen Sinne von Gedanken durchzogen. Sie erscheinen oft anmutig, ja schön, nicht selten aber auch voller Zartheit und Güte. Man kann dies moralisch nennen. Moral wäre dann das Ergebnis von Sinnhaftem, das in die Zukunft zu tragen verspricht.

Treten aber frei von den Einzelnen mit den Empfindungen ausgewählte und gestaltete Verhältnisse auf, welche Wahrheit, Schönheit und Güte enthalten, dann sind die Bedingungen erfüllt, die Rudolf Steiner im neunten Vortrag der Geisteswissenschaftlichen Menschenkunde beschreibt als die „Schöpfung aus dem Nichts“, die eigentliche freie Handlung des Menschen. Alle die von Steiner in diesem Vortrag beschriebenen Zusammenhänge gelten für das Urphänomen, welches Schiller in Kallias beschreibt und für die künstlerischen Übungen, die in diesem Sinne entwickelt werden – vorausgesetzt, sie enthalten Regeln, welche die improvisierende Gestaltung aus dem Augenblick für alle Teilnehmer, wie auch die freie Beurteilung der entstehenden Verhältnisse erlauben.

Die Dreiteiligkeit der Zeit

In der Beschreibung der „Schöpfung aus dem Nichts“ von Rudolf Steiner taucht auch der Begriff der Evolution auf. Evolution meint den Teil der Zeit, der Kausalität bildend, aus den Verhältnissen der Vergangenheit sich ergibt und der unfrei uns in Bedingungen versetzt, die wir nicht wählen, sondern die uns schicksalsmässig auferlegt sind. Zu dem aus dem bereits Geschehenen sich ergebenden Begriff gehört dessen Gegensatz, Involution genannt. Man könnte Involution die Einmischung von Kräften und Wesen nennen, welche aus dem noch nicht Gewordenen, aus der Zukunft hereinströmen und den Teil der Zeit bilden, der nicht vergeht, sondern der sich neu bildet. In einem von Eduard Schuré wiedergegebenen Ausspruch Rudolf Steiners tritt uns das polare Zusammenwirken dieser beiden Zeitströme entgegen. In beiden Strömen, der vergehenden und der entstehenden Zeit, steht der Mensch ständig darinnen. In diesem Zeit-Strom-Geschehen spielt sich auch jede Bewegungsgestalt ab, auch in dem Sinne wie sie hier gemeint ist – als künftige soziale Kunst.

Gäbe es nur diese beiden Ströme, so wären wir ihnen bloss ausgesetzt. Wir wären nicht frei und unsere Handlungen hätten keine Aussicht, Kunst zu werden. Wahres Spiel jedoch, hier mit den gemeinsamen Bewegungsverhältnissen, erzeugt ständig neue Gelegenheiten im Sinne der „Schöpfung aus dem Nichts“, neue Verhältnisse von Wahrheit, von Schönheit, von Moralität. Sie sind gänzlich subjektiv, also aus der persönlichen Neigung erfassbar. Sie sind als Element künstlerischen Erlebens und Gestaltens herauszulösen und sie sind – im Austausch mit allen Anderen – im Nachgespräch mitteilbar.

Die so gehandhabte Dreiteiligkeit der Zeit ist nicht nur auf das gemeinsame Üben beschränkt. Sondern das gemeinsame Tätigsein im Sinne des dreiteiligen Zeitbewusstsein vermag in allen Beteiligten das Organ zu bilden, welches imstande ist, auch im Leben des Alltags die Zeichen der  Zeitkunst wiederzuerkennen und zu üben.

Die Schicht des Schicksals

Indem die sich im Sinne von Schillers Urbild bewegenden Menschen mit ihren Gliedmaßen Zeitstrukturen in den Raum hinein verweben, deren Nachklang in jedem Einzelnen als Gesamtgebilde weiterwirkt, geschieht dies in der Ausnahmesituation, die künstlerisches Tun aus dem gewöhnlichen Leben heraushebt. Aus dem Alltag sich herauslösend, vollzieht sich jede Bewegung jedoch auch mit dem leiblichen Instrument, welches das persönliche Karma enthält. Das ist vor allem der Muskelmensch, der, nach Rudolf Steiner, das „kristallisierte Karma“ in sich birgt. 

So lässt sich sagen: die entstehende gemeinsame, künstlerische Bewegung trägt, gleich einem Fruchtwasser, die an die Leiber gebundenen Schicksale und umspült sie mit freien, zukünftigen Kräften. Eine schicksalheilende Kraft geht von einer solchen sozialen Kunst aus.  Gemeinschaften, die an die Schwere von Institutionen gebunden sind, oder solche, wie sie die Zukunft bringen wird, die von Verwilderung bedroht werden, erfahren durch diese Kunst Belebung, Erleichterung, Sinn und Form. Es sind die von Rudolf Steiner beschriebenen Kräfte der sich in unserer Zeit erweiternden ätherischen Welt, die lösend und hoffnungspendend in die soziale Kunst einfliessen.

Sechs Künste und die siebte

Eine Andeutung Rudolf Steiners aufgreifend, beschreibt Dieter Rudloff in seinem Buch: „Die Parabel der sieben Künste“ die Folge und den Zusammenhang dieser Siebenzahl. Wobei die Zeit noch nicht reif war, Klarheit über die siebte Kunst zu bekommen. Gehen wir wiederum von Schillers Urphänomen aus, dann ist zwar ein Tanz das Gleichnis für die Kunst, die erst entstehen soll. Dieser Tanz wirkt, als ob er eine freie Gestaltung wäre. Er ist es aber noch nicht. Wir müssen die Ganzheit der Briefe über die ästhetische Erziehung einbeziehen, um zu sehen, dass es Schiller um etwas weit Umfassenderes geht, als das, was ein Tanz zu leisten vermag. Es ist das ganze Feld der sozialen Verhältnisse, welches gerade durch die Französische Revolution in einer Erschütterung deutlich wurde. Eine Kunst, die Revolutionen entgegenzusetzen ist, kann erst eine kommende sein. Sie muss beim Einzelnen und bei einigen Wenigen beginnen. Das Gleichnis des „englischen Tanzes“ zeigt die Möglichkeit und die Richtung.

Die Richtung wird umso deutlicher, wenn wir diesen Gleichnistanz als einen Keim in die Folge der Künste versetzen, die bereits vorhanden sind: Architektur, Skulptur, Malerei, Musik, Dichtung, Tanz/Eurythmie. Diese Reihenfolge bekommt ihren Sinn durch ihr Verhältnis zu den menschlichen Kräften und ihren Gliederungen, den Wesensgliedern im Sinne der Anthroposophie. So ist die Architektur dem physischen Leib zuzuordnen, der von altersher „Tempel der Gottheit“ genannt wurde, die Bildhauerei dem Äther- oder Lebensleib, welcher der innere Erbauer des Menschenleibes ist, die Malerei dem Astral- oder Seelenleib, welcher die Farbigkeit des Erlebten in der Seele erzeugt, die Musik dem Ich, als dem zunächst höchsten Glied des Menschen. Im Musikalischen aber schwebt und lebt das Ich, die kosmischen Klangverhältnisse aufnehmend, im Astral- oder Seelenleib. In der Dichtung beginnt die musikalisierende Tätigkeit des Ich die Menschenkräfte umzuwandeln: eine feinere Substanz entsteht, das Geistselbst als Verwandlung des Seelenleibes. Im Tanz, besonders in der Eurythmie als sichtbare Sprache wie Musik, geht die Umwandlung weiter, sie ergreift den Lebensleib und wird zum Lebensgeist. Die siebte Kunst vermag endlich, den physischen Leib zu verwandeln, zum Geistesmenschen.

Um die Linie der Verhältnisse der sieben Künste zu zeichnen, welche nach Rudloff und Steiner eine Parabel darstellt, müssen wir uns hier im Bereich des Schematischen und scheinbar Abstrakten bewegen, wollen wir die Bedingungen der siebten Kunst so kurz wie möglich fassen. Ungeheure Horizonte erscheinen, die ob ihrer Bedeutung uns dann schwindeln machen, wenn wir das Schillersche Urbild, von dem alles ausgeht und welches uns die Kunst fassbar macht, aus den Augen verlieren.

 

Die Verwandlung des physischen Leibes

In eine ferne Zukunft schauen wir ahnend und hoffend, wenn wir die Verwandlung und Vergeistigung des physischen Leibes zum Geistesmenschen annehmen. Von dieser Hoffnung einer Zukunft her allein kann es berechtigt sein, eine soziale Kunst, dem anspruchslosen Keim des Kallias-Urbildes vertrauend, für möglich zu halten und übend zu beginnen. Tun wir es, dann aber können wir wissen, dass dieses Üben der Not der Zeit entspricht, in welcher gerade die physischen Leiber in immer größerer Schwere und Verdichtung den Seelenkräften der Menschen zu entgleiten drohen. Wo uns der geistige Blick in die nebelhafte Zukunft, verbieten möchte, ein solch hohes Ziel, wie es die siebte Kunst nur sein kann, anzustreben,  ist es unser Wille, welcher – in aller Demut – die Not unserer Zeit erkennt und ergreift, um übend zu beginnen.

Schiller entwirft, er wirft, was er sieht „schweigend in den unendlichen Strom der Zeit“(9. Brief). Wir sind es, die aufzugreifen vermögen, was uns die Zeit zuträgt. Dann aber können wir gewiss sein: jede Übung im Sinne der beginnenden siebten Kunst ergreift in Gemeinsamkeit den Leib eines Jeden und verwandelt ihn, und sei es in kleinsten Spuren, zum Geistesmenschen, dem edelsten Teil des menschlichen Wesens. So schafft sich diese Kunst ihre Grundlagen in ihrem Tun. Was hier nicht ausgesprochen werden kann an Tiefe der Bedeutung, wir haben es als ein unerschöpfliches Bild dann vor uns, wenn wir Michelangelos letztes Werk, die Pietà Rondanini in Mailand nicht nur als Bildwerk, es mit unserem Leben verbindend immer wieder anschauen, sondern wenn wir uns in seine Entstehungsgeschichte und in seinen bildhauerischen Arbeitsprozess nacherlebend so hineinversetzen, dass wir dessen Wirkung auf die Verwandlung unseres eigenen physischen Leibes spüren.

 

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Das soziale Leben ist dreigegliedert wie der menschliche Organismus. Denken, Fühlen, Wollen, Nerven-Sinnessystem, rhythmisches System, Stoffwechsel entsprechen den drei Kräften oder Prinzipien, die seit der Französischen Revolution bekannt sind. Die drei Ebenen, die Schiller in seinen Briefen beschreibt, sind dazu die Entsprechungen: Formtrieb, Spieltrieb, Stofftrieb. Soll eine Kunst eine soziale sein, dann müssen auch in ihr diese drei Elemente vorhanden und in Bewegung sein. Auch sie ergeben sich ungesucht aus dem Schillerschen Kallias- Urphänomen, sie sind gleichsam seine Funktion. Sieht man die Bewegungsgestalt vom Willen her, so ist es der Wille, die Freude, das Bedürfnis zum Miteinander, zum brüderlich Genossenschaftlichen, zum Hand- in- Hand- Arbeiten, der die Bewegungen erzeugt. Ohne die hier entstehende Wärme, die auch ein schlafendes und dunkles Element enthält, wären solche Bewegungen blass und würden im Intellektuellen und im Ästhetischen verkommen. Bloßes Zusammensein aber wäre ziellos. Die Richtung müsst ihm von aussen gegeben werden und die Individualität würde verschwinden.

Indem jedoch alle an der Gestaltung des Bewegungsverlaufes aufmerksam beteiligt sind und dieser nur durch das Behaupten des eigenen Willens geschieht, ist persönliche Wachheit gefordert, welche sich, mitten im Bewegungsfluss, durch eigenen Entschluss sowohl verbindet, wie auch trennt. So liegt in der Schonung des Willens der Anderen die Möglichkeit zur Willkür, damit zur Freiheit. Wir erleben, aus dem Wesen der schillerschen Urgestalt heraus sowohl das Element der Brüderlichkeit wie das der Freiheit.

Die Gleichheit und somit das Rechtsleben ist die Mitte solcher Übungen. Denn jede Begegnung liegt zwischen Behaupten und Schonen, zwischen den  individuellen Willen und ihren Aufmerksamkeiten. Mit dem Mittel des Fühlens, des Empfindens im Umkreis des Geschehens, werden ständig gleichsam fliessende Rechtsverhältnisse erzeugt, Abkommen, die im Nu in neue, wortlose Verträge übergehen, durch Gesten angedeutet, die in allen Begegnungen liegen. So entsteht eine wörtliche Verträglichkeit, die allen gleiche Rechte einräumt. Vertragsbrüche haben unmittelbare Störungen im Bilden der gemeinsamen Bewegungsgestalt zur Folge. So ist es das Spiel, das künstlerische Element, und nicht eine von aussen wirksame Instanz, welche Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sowohl ständig hervorbringt, wie davon zehrt.

 

Sechs Künste in der siebten

Als eine erst entstehende Kunst ist die siebte die jüngste und unvollkommenste. Als Spiel im umfassendsten Sinn ist sie aber in allen anderen Künsten von Anfang an enthalten und ist als durchgehender Keim und Strom die älteste, die Urkunst. In ihr ist veranlagt, was als Gesamtkunstwerk von vielen Künstlern angestrebt wurde. Aus dem geheimnisvollen Choròs der Griechen und aus dem Leikr der Germanen, die noch im Schutz der Mysterien standen, haben sich die Künste heraus entfaltet. Die siebte Kunst, die soziale, ist der letzte Schritt dieser Entfaltung und braucht zugleich die sechs erprobten Künste als Grundlage, ihre erübten Fähigkeiten als durchdringende Qualitäten.

So wie sie werden soll, verbindet sie die vereinzelten Künste wieder – in einem neuen, zukünftigen Choròs. Auch in den bescheidensten Übungen im Sinne von Schillers Urphänomen tauchen Elemente von Baukunst, Skulpturhaftem, Malerischem, immer aber von Musikalischem, von Poetischem auf. Die Kunst fliesst nur, wenn das Tänzerisch-Eurythmische in den Bewegungen lebt. Und so sind die bestehenden Künste aufgerufen, sich der neuen Kunst zu öffnen: um von ihr belebt zu werden, um sie zu belehren.

 

Der Kampf aller gegen alle und der Gute Wille

In den Bewegungen der Menschen, welche sich zur Lösung einer künstlerischen Aufgabe vereinen, leben und weben ihre Schicksalskräfte. Alte Belastungen und zukünftige Hoffnungen durchdringen sich. Wer menschliche Verhältnisse kennt, kann ahnen, welche Abgründe und Spannungen sich unter der hellen Oberfläche des Bewusstseins verbergen. Wir können uns ausmalen, was in einer Situation von Not und Panik aus den Menschen einer Gruppe hervorbrechen könnte, die jetzt gerade künstlerisch friedlich übt.

Alle diese Kräfte, nicht verwandelt, werden einmal aufbrechen, und der Kampf aller gegen alle liegt im Schicksal der Erdentwicklung. Die Zeichen davon sind in unserer Zeit unübersehbar. Die soziale Kunst ist eines der Heilmittel. Was ein berechtigtes Gegeneinander der Menschen ist, weil jeder sich individuell im Guten oder im Schlechten auf eine eigene Weise entwickelt, braucht einen Ausgleich. Soll es nicht die Unterwerfung unter ein Gesetz sein und eine Macht, welche dieses Gesetz erzwingt, so braucht es den Guten Willen, der aus der Freiheit heraus geboren wird. Der gute Wille ist das eigentliche Geheimnis der sozialen Kunst. Ohne ihn ist keine gemeinsame Bewegung möglich. Seine Natur zu erforschen und zu erproben ist die Zukunft dieser Kunst. Denn der Gute Wille kommt aus der Zukunft, kommt von einem Wesen, das in fernen Zeiten darauf wartet, in die sozialen Verhältnisse mächtig helfend einzugreifen.

 

Die soziale Kunst, die Natur und die Kinder

Die neue Kunst als ein Keim, der ständig bedroht ist von der Willkür des Eigenwillens, welcher sich in unserer Zeit unendlich zu steigern beginnt, hat sich zu prüfen und zu bewähren an und in Bereichen, die rein sind von Willkür. Der eine Bereich ist die geschaffende Welt der Natur, der andere die beginnende Welt der Kinder im Spiel. Was im Raum erübt und erprobt ist, kann sich dann in die Natur, in die Landschaft hinausbegeben, wenn es Verwandtschaft mit den Elementen gewonnen hat, und wenn das große Gesetzt von Polarität und Steigerung, welches Goethe uns vermittelt hat, die Menschenkunst so läuternd zu gestalten vermag, dass die Wesen der Natur darin mitwirken möchten.

Sie können sich in der Menschenkunst dann wiedererkennen, wenn diese eine neue Natur geworden ist. Die soziale Kunst wird einst die Keuschheit einer seelischen Natur gewinnen, in der die Verhältnisse zwischen Menschen zu Zeitlandschaften werden, in welchen die Menschen leben und sich ergehen können. Jede Willkür überschießenden Willens und einschneidender Intellektualität kränkt Bäume, Berge, Steine, Wasser, Licht und Wind und wir können uns an ihnen korrigieren.

So sind auch die spielenden Kinder in der Nähe sozialen Geschehens unsere Prüfer. Ohne das geringste Zögern nehmen sie an, was ihrem Spiel bekömmlich ist und lehnen ab, was gewollt, was mit Absichten beladen, was ohne wahre Kunst ist.

Der neue Arbeitsansatz

Wie ist er aus dem Schillerschen Urphänomen abzulesen? Indem wir das, was Schiller beschreibt, als Komplementärbild nehmen. Kunst ist ein Ausnahmezustand. Aus was aber löst sich die soziale Kunst heraus als eine freie Betätigung der sozialen Bedingungen? Es ist ein Feld gebundener Fähigkeiten, welche als Leistung gegen Widerstand arbeiten und produzieren: die Arbeit. Heinrich Marianus Deinhard, der Schillers Briefe in die Welt der Erziehung und der Arbeit weiterführt, sagt uns dies: Arbeit ist die freie Menschenkraft, die Leistung hervorbringt. Spiel ist nichts anderes als die selbe Kraft, die sich nun reinigt und „idealisiert“ von den Mühen der Arbeit, um sich aufs Neue auf die Arbeit an der Welt vorzubereiten.

So erweist sich Schillers Urbild als die eine, die frei gestaltete Seite des sozialen Lebens. Und das Arbeitsleben als das Leben in Schwere und Mühen des Alltags ist dessen andere Seite. In der Wirkung der beiden Leben aufeinander, reinigt und befreit das Eine. Das Andere verankert die gereinigte Freiheit in der Welt der Notwendigkeiten und verleiht ihr Verantwortlichkeit. Die soziale Kunst im Sinne von Schiller und von Deinhard veredelt die Arbeitskraft. Der Arbeiter, der sich seiner freien Menschenkraft bewusst wird, indem er ein Übender der sozialen Kunst wird, wird sich nicht mehr dazu mißbrauchen lassen, seine Arbeitskraft als eine Ware verkaufen zu müssen.

Der Wille auch des arbeitenden Menschen ist frei, weil der Wille reiner Geist ist, auch dann, wenn er sich seiner Muskeln, ja, wenn er sich der Maschinen bedient. Je stärker der Materialismus den Menschen und seine Arbeit mit der Maschinenwelt und nun auch mit der Elektronik gleichsetzen will, umso bedeutsamer ist es, eine soziale Kunst als Ausgleich zu entwickeln.

 

Das soziale Hauptgesetz und die siebte Kunst

„Das Heil der Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen eigenen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden“. (Rudolf Steiner)

Wenn man diesen Satz, der das große Ganze des Zusammenwirkens, auch des wirtschaftlichen, von Menschen beschreibt, als einen Bewegungsvorgang, eine Choreographie sieht und herauslöst aus den physischen Gegebenheiten, so wie man auch die Bewegungen einer Familie, eines Betriebes, einer Gemeinde als reinen Bewegungsvorgang anschauen kann, dann erhält man wiederum eine Bewegungsgestalt, die an Schillers Urbild erinnert. Umgekehrt kann man jede gelungene Übung im Sinne der siebten Kunst als ein Geben und Nehmen von Verhältnissen und Gelegenheiten sehen, in welchen alle von allen getragen, keiner von seinen eigenen Impulsen lebt, sondern jede eigene Tätigkeit unmittelbar in die Tätigkeiten aller anderen übergeht, um von deren Handlungen gespeist zu werden.

Das Gleiche gilt auch für den Satz Rudolf Steiners aus der Philosophie der Freiheit: „Leben in der Liebe zum Handeln und leben lassen im Verständnis des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen“. Auch hier ist, was als abstrakter Gedanke und behauptetes Idealbild erscheint, welches anzustreben, aber nie zu erreichen ist, unmittelbare Gegenwart dann, wenn wir im Sinne der sozialen Kunst übend tätig werden. Was in der realen Welt ein fernes Ziel sein mag, was im blossen Postulieren ermüdend wirkt, das ist im künstlerischen Bewegungsvorgang unmittelbare Wirklichkeit.

 

Das Material der siebten Kunst

Jede Kunst hat ein Material, an dem sie ihre Bedingungen erprobt. Die Baukunst gestaltet die verschiedensten Baumaterialien, die Skulptur alles, was sich plastisch gestalten lässt. Die Malerei belebt Farbe und Form auf den verschiedensten Hintergründen. Die Musik lebt in Tönen und Rhythmen, welche durch die Stimme und Instrumente hörbar werden. Tanz und Eurythmie wirken durch die ganze körperliche Gestalt, wobei der Tanz einst geistige, kosmische Gesetzmäßigkeiten ausdrückte und heute den Ausdruck persönlicher Subjektivität mit allen dazu gehörigen seelischen und körperlichen Mitteln anstrebt. Und die Eurythmie auf neue Weise, über die sichtbar werdende Sprache wie die Musik den Weg zu den kosmischen Kräften wieder ermöglicht. Das Material der siebten, der sozialen Kunst aber ist der Wille, der sich am physischen Leib und im Raum erprobt. Reiner Wille aber ist Geist. 

Doch dieser Geist, als mit dem Ich verbunden, ist ein unvollkommener, ungebärdiger, des Lernens und Arbeitens, der Entwicklung bedürftig. In Revolutionen macht er sich Luft, explosiv, glühend, niederreissend, wie auch in Panik und Verzückung. Wo der physische Leib das vollkommenste Instrument ist, von den Göttern geschaffen, so ist das Ich und sein Wille das jüngste und unvollkommenste Glied des Menschen.

Damit ist in der siebten, der sozialen Kunst ein Gebiet eröffnet, das ungeahnte Möglichkeiten, aber auch Gefahren birgt. Denn in der Verbindung vieler Iche und ihrer Willen liegt eine Kraft, deren Wirkung wir in der Geschichte in bewundernswerten wie in grausamen und vernichtenden Beispielen anzuschauen vermögen. Sich gemeinsam in Gruppen zu bewegen, ruft Kräfte auf, die sich unwiderstehlich zu steigern vermögen, im Guten wie im Bösen. Verführer sind gekommen und werden kommen, welche, was Kunst werden soll, zu ihren Zwecken missbrauchen werden.

So sind in unserer Zeit Grundlagen dieser kommenden Kunst zu legen, die sie unverrückbar mit den Wurzeln der Menschheitskultur verbinden, welche den Guten Willen in sich birgt. Das Wesen und Geheimnis des Guten Willens wird den lernbedürftigen Willen der Einzelnen und der Gemeinschaft dann leiten und behüten, wenn wir das Schillersche Urbild, in dem das Wesen Goethes mitwirkt, das Metamorphosenwesen als Gesetzeswesen der lebendigen Welt, niemals in unserem Üben und Suchen verlieren.

So wird sich die siebte Kunst, Soziales gestaltend, einst als die in das Lebendige versetzte erste Kunst, als der neue Tempelbau erweisen, der aus dem Augenblick helfende, bergende, schützende Zeit-Räume sich bilden lässt, in welchen die Menschen in Zukunftsstürmen Zuflucht finden und in denen sie zu arbeiten vermögen. Eine neue Bauhütte im Zeitenfluss wird die soziale Kunst sein.

 

Der Ästhetische Zustand

Die Mitte von Schillers Briefen und somit seines Denkens überhaupt ist der neue, von ihm in die Geistesentwicklung eingeführte Begriff des Spieles. In dem Urphänomen der Kallias-Schrift ist Spiel das Element, welches den „englischen Tanz“ bewegend durchdringt. In der scheinbaren Oberfläche des spielenden Tuns offenbart sich in Schillers Sinn der Mensch in allen seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten, der freie Mensch. Was also leicht und kindlich naiv erscheint, ist, so wie Schiller das sieht und zeigen will, die Tiefe des menschlichen Wesens – nun aber am Leichtepunkt ergriffen.

Um dem Willen des Spieles gerecht zu werden und um die soziale Kunst als Oberfläche, die zugleich Tiefe ist, zu verstehen, muss erfasst werden, was Schiller mit dem Ästhetischen Zustand meint. Er nennt ihn das Geschenk der Menschheit. Was als bewegliche Oberfläche des Spieles erscheint, enthält die Tiefe des Zustandes, den Schiller den ästhetischen nennt. Schiller beschreibt ihn im 21. und 22. Brief. Wo finden wir ihn in unserer Erfahrungswelt?

Es ist der magische Übergang von unserem Wollen zur Handlung. Zwischen dem Ansatz, etwas zu wollen und der daraus entstehenden Handlung liegt ein verborgenes Gebiet, von dem doch abhängt, ob wir aus dem Wollen eine Handlung werden lassen können. Entdecken wir dieses Gebiet, welches zunächst schmal, ja fast unbedeutend erscheinen mag, weil es meist achtlos übergangen wird – das scheinbar nahtlose Übergehen von einem Willensimpuls in eine Handlung – dann weitet sich dieses Grenzgebiet. Und aus ihm vermag eine Fähigkeit zu erwachsen, welche wahrlich – als Schenkung der Menschheit – in Gegenwart und in Zukunft eine entscheidende Bedeutung bekommen wird: als Quellgebiet der unerschöpflichen Kraft, welche sowohl unser Tun wie unsere Leidensfähigkeit zunehmend zu speisen vermag. 

Wir erlangen anschaulichen Zugang zu diesem Gebiet durch ein denkwürdiges Kunstwerk, den verspotteten Christus des Fra Angelico, versehen mit den Attributen Stock und Ball, der Dornenkrone, der Binde vor den Augen, dem weißen, fließenden Gewand, sitzend auf einem roten Block – als Wandbild im Kloster San Marco in Florenz. Lassen wir dieses Bild meditativ auf uns wirken, so wächst in der Empfindung das, was die Tiefe des Ästhetischen Zustandes, „des freien Menschen, des Chrestos“ (Rudolf Steiner) ist.

Wenn die Bewegung der sozialen Kunst von dem hier anschaulich gewordenen Seelen- und Willenszustand ergriffen ist, dann wird sie geschützt sein von aller ausbeutenden Willkür und von aller Leichtfertigkeit, die diese Kunst bedrohen kann.

Was in Schillers Urphänomen in Kallias die Schonung des Willens einerseits und die Behauptung des Willens andererseits ist, stellt sich in Ball und Stock des Christusbildes als Urkräfte des Menschen dar, der sie im völligen Gleichgewicht hält. Nicht umsonst spricht Goethe von der Christuskraft, die von Schiller ausging.

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