Das Kind und sein Leib

Kurze Beschreibung einer künstlerischen pädagogischen Methode

 

Sich in der Hand haben – so sagt die deutsche Sprache – darauf kommt es im Leben an. Das aber muss man lernen. Man kann auch sagen: sich im Griff haben. Die Kinder suchen die Erfahrung im Kämpfen und Balgen miteinander. Indem sie den anderen Leib, den anderen Willen ergreifen, lernen sie auch, mit dem eigenen Leib umzugehen. In der Pädagogik wird heute alles Mögliche und Unmögliche getan und gefordert. Jedoch dem Kind zu helfen, seinen Leib zu ergreifen, das geschieht kaum oder gar nicht. Wer aber seinen Leib nicht ergreift, wer nicht lernt, sich in der Hand zu haben, der „gerät leicht aus dem Häuschen“. Er verliert in der Aufregung einer Krisensituation sein Verhältnis zum Leib. Wer im Leben ein arbeitender Mensch sein will, muss auch seinen Leib ergreifen und bearbeiten lernen. Man kann auch sagen: Wer als Kind nicht liebevoll begriffen wurde, kann später weder seine Mitmenschen noch die Welt wahrhaft begreifen.

Wie kann eine Erziehung schon des kleinen Kindes aussehen, die ihm hilft, Herr im eigenen Haus des Leibes zu werden? Denn im Alter  spätestens zeigt sich: wer im Leben nicht gelernt und geübt hat, seinen Leib als sein Instrument fest in der Hand zu haben, der gibt dann den Leib leicht auf, wenn  Beschwerden kommen, vor allem letztendlich die des Alters,  und verfällt ihnen in Hilflosigkeit. Viele negative Zeiterscheinungen, nicht zuletzt die zunehmenden Depressionen und das Ausgebranntsein, sind auch die Folge des nicht Zurechtkommens mit dem Leib. Angelegt werden die guten oder schlechten Fähigkeiten, mit dem Leib umzugehen, in der Kindheit.

Bei der Geburt muss das Kind in einer Drehung durch die Enge des Mutterschosses hindurch, um sein eigenes Leben zu beginnen. Das aber heisst: am Anfang des Lebens steht eine Arbeit als Leistung gegen Widerstand, die manchmal sogar ein Kampf ums Leben werden kann. Diese erste Leistung prägt den Menschen und ohne sie, wie es beim Kaiserschnitt der Fall ist, wird der Mensch später Schwierigkeit haben, deren Ursache meist nicht erkannt wird. Sieht man alte Kulturen an, dann haben sie für die ersten Jahre des Aufwachsens spielerische und zeremonielle Methoden, um das Kind immer wieder zu berühren und es seiner Körperlichkeit zu vergewissern. Bekannt war oder ist noch die indische Kindermassage nach Leboyer. Es gibt alte deutsche und schweizer Körperspiele, solche, bei denen der Leib ein Teig ist, der geknetet und gebacken wird und andere. Im alten Finnland gab es in der Weihnachtszeit in den Heiligen Nächten das spielerische Balgen des Vaters mit seinen Kindern in der Bauernstube, die auf dem Boden mit Stroh bedeckt war.

Immer aber kommt Widerstand von aussen, damit der Wille des Kindes von innen geweckt wird, sich selbst zu ergreifen. So hat man in alter Zeit nicht umsonst die Säuglinge fest gewickelt. Man wusste instinktiv, dass dadurch einer späteren Nervosität vorgebeugt wird.

Ich habe meine Erfahrungen zunächst gewonnen im Umgang mit autistischen und schwer kontaktgestörten Kindern in der heilpädagogischen Arbeit in Schweden, auch durch schwedische und schweizer Jugendlichen mit Drogenproblemen, dann beim Aufbau eines Kindergartens und einer kleinen Schule in Graubünden mit kräftigen und gesunden Kindern, die alles daran setzten, mit dem Werner zu kämpfen, um ihn zu besiegen. Später kamen  die Jahre in unserem Kindergarten Bienenkorb in Waldkirch im Breisgau wie auch die Begegnung vielen mit  Kindern bei Wochenendkursen in vielen Ländern Europas.

Lange nachdem ich selber Methoden und Wege des Umganges mit dem Leib von Kindern und Erwachsenen entwickelt hatte, hörte ich von der amerikanischen Festhaltetherapie für Autisten, die dann in Deutschland von Jirina Prekop zu einer liebevollen  Behandlung für unruhige, zappelige und aggressive Kinder umgestaltet wurde. Nicht selten hat Prekops Methode auch Eingang in Kindergärten gefunden und ihre Bücher mit Ratschlägen für die Familie sind bekannt. Ich habe sie vor einiger Zeit in Freiburg bei einem Vortrag kennengelernt und ihr meine Arbeit vorgestellt, die sie mit liebevoller Anteilnahme bejaht hat. Wo ihr Weg in erster Linie ein mütterlich-heilender ist, so ist der meine eher als männlich und spielerisch-künstlerisch zu betrachten.

Der Umgang der Mutter und Frau ist ein anderer mit dem Leib des Kindes, als es der des Vaters und Mannes ist. Die Mutter, die Frau gibt dem Kind in erster Linie Schutz und Geborgenheit. Die Aufgabe des Vaters und des Mannes ist es, sich mit  dem Willen des Kindes zu messen und ihm Mut und Kraft zu verleihen. Gleichzeitig gilt es, Aggressionen und Ängste auszugleichen und Gelassenheit und Gleichmass im Balgen und Ringen mit dem Kind zu vermitteln. Der Erwachsene, der mit überlegener Kraft mit einem Kinde ringt, hat die Gelegenheit, mit diesem Kind ein Rechtsleben zu entwickeln. Das Kind hat die gleichen Rechte wie der grosse Mensch. Beide müssen die Regeln des Spieles streng beachten. Doch das Recht entwickelt sich aus dem Taktgefühl und der Freiheitsfähigkeit des Erwachsenen. Dazu gehört eine persönliche Schulung, die hier angedeutet werden soll.

Manche Väter kämpfen und balgen mit ihren Kindern aus reiner Lust und Freude. Ohne Lust und Freude geht auch das methodische, künstlerisch- spielerische Balgen nicht. Aber im Leib, in der Gestalt des Menschen sind Kräfte, Geheimnisse, aber auch Gefahren verborgen, die man kennen muss, um Gutes zu bewirken und Schlechtes zu vermeiden.

In alten Zeiten wusste man, dass die menschliche Gestalt in zwölf Regionen eingeteilt ist, die dem Tierkreis entsprechen. Wer diese Regionen kennt, kann nachprüfen, welche Empfindungen von verschiedenen Qualitäten  damit verbunden sind, wenn man sie betätigt oder sie berührt werden. Die Regionen sind von oben nach unten Kopf-Widder, Hals, Nacken-Stier, Schultern-Zwillinge, Brustbein-Krebs, Herzregion-Löwe, Bauch-Jungfrau, Hüften-Waage, Nieren, Sexualorgane-Skorpion, Oberschenkel-Schütze, Knie-Steinbock, Waden-Wassermann, Füsse-Fische.  Man kann eine solche Einteilung ein Körperschema nennen. Auch andere Einteilungen in Körperregionen sind möglich. Wesentlich ist, dass der Mensch schon in der Kindheit eine gegliederte Empfindung für die Gesamtheit seines Leibes erhält, einer Ganzheit, die ihn nicht in erster Linie zum Selbstgenuss, sondern zum sozialen Leben in der Umgebung, in der Menschengemeinschaft befähigt.

Jeder Mensch erlebt Unterschiede im Berührtwerden, zum Beispiel auf dem Kopf, auf der Schulter, der Brust, dem Bauch, den Knien, den Füssen. Manche Regionen gehören zum freundschaftlichen sozialen Umgang: Hände schütteln, auf die Schulter klopfen, sich umarmen, auch beruhigend und helfend über den Rücken streichen und ähnliches. Andere Berührungen werden als zu intim erlebt und dann als unangenehm, wenn eine Grenze überschritten wird.

Daraus geht aber noch ein anderes hervor, nämlich die Wahrnehmung der sozialen Umgebung wie auch der Welt durch die verschiedenen Körperregionen, durch das Körperschema.  Ich erlebe die Umwelt, die Mitmenschen, die Landschaft, die Architektur anders mit der Vorderseite meines Körpers als mit der Rückseite. Ein Pädagoge, ein Musiker, ein sozial aktiver Mensch wird einer sein müssen, der auch das stark empfindet, was er nicht nur sieht, sondern hörend wahrnimmt, also den ganzen Umkreis, vor allem aber mit dem Rücken und mit den Händen.

Die heutige Zivilisation ist auf das zentrale Nervensystem und auf die Augen konzentriert. Dadurch entsteht eine  kalte intellektuelle Vereinseitigung, die eine starke Ähnlichkeit mit der Krankheit des Autismus hat. Wer die Welt, die Mitmenschen, die Natur als Ganzes in der Tiefe aufnehmen und verstehen will, braucht die fein empfindende und liebevolle Wahrnehmungsfähigkeit aller Regionen des Leibes, seines Körperschemas, dessen sich die Seele als Instrument bedient.

Wer einen Standpunkt vertreten will, muss seine Füsse fest auf der Erde haben. Wer ein handelnder Mensch sein will, braucht zupackende und geschickte Hände. Vor allem müssen die Körperregionen warm und durchblutet sein, um ihre Funktionen zu erfüllen. Wer in Familie, Kindergarten und Schule achtet darauf, dass die Kinder immer warme Füsse und Hände haben? Ein Mensch, der sich schon in der Kindheit an kalte Hände und Füsse gewöhnt hat, wird es schwer haben, später  sich ganz, und das heisst warm mit Lebenssituationen und mit Menschen sich zu verbinden.

Vieles wäre zu sagen: über die Angst, die Aggressionen und die Gewalt, auch über spätere Schwierigkeiten in der Pubertät, wenn nicht im Spielalter die natürliche Fähigkeit, über alle Kräfte des Leibes zu verfügen, geübt wurde.

Wesentlich ist für den, der im guten und echten Sinn das Ringen und Balgen mit Kindern erlernen will, das eigene Gleichgewicht der Triebe und Bedürfnisse, die man hat. Wer bei Kindern etwas sucht, was er selber braucht, der ist nicht am rechten Platz. Weder ein persönliches Bedürfnis nach Zärtlichkeit noch sonst ein Eigengenuss gehören in den Umgang mit Kindern, auch den eigenen nicht. Deshalb sollen alle Spiele mit Kindern, bei denen der Umgang mit dem Leib geübt wird, in voller Öffentlichkeit geschehen, so dass immer andere Freunde und Mitarbeiter Zeugen sind und auch ihre Korrekturen einbringen können. Schon das leichte Empfinden von Unstimmigkeit und Unbehagen soll deutlich ausgedrückt werden.

Das Beste ist, wie ich es in meiner schweizer Zeit erlebt habe, wenn die Väter beteiligt sind, was wir damals an lustigen Samstagvormittagen im dortigen Kindergarten gemeinsam mit allen Kindern erlebten. Die Mütter zogen es damals meist vor, das Feld  den Männern zu überlassen, denn das ganze Geschehen war dann, zur Freude der bündner Bergkinder, ein wenig rauh und wild, aber herzlich und vor allem lustig.

Vieles ist zu lernen, wenn man, über das einfache und natürliche väterliche Balgen mit Kindern hinaus, dies zu einer sozialen Kunst entwickeln will. Eine besondere Fähigkeit erlangt man, wenn man die Skulpturen des Bildhauers Michelangelo studiert, wozu es reichlich Material, das heisst Literatur mit Abbildungen gibt. Die Originale geben dann natürlich einen stärkeren Eindruck. Was dieser Künstler an Gesetzmässigkeiten der gesunden und organischen Körperlichkeit zeigt, führt in eine Welt des Wachstums, der Verwandlungen und Metamorphosen in der Leibesbildung, vor allem aber der verschiedenartigen Drehung, die eine Urbewegung im menschlichen Leib ist  und die in der Kunstgeschichte zum ersten Mal in den griechischen Plastiken  auftaucht.

Ein gesundes Kind, das sich beispielsweise durch die Enge der angewinkelten Arme oder Beine des Erwachsenen  hindurcharbeitet, tut dies eben mit dieser schraubenden, fliessenden Urbewegung mit natürlicher Geschicklichkeit. Diese zu bestätigen und zu erüben, baut ein Lebensgefühl auf, das befähigt, später im Leben auch bei seelischen und geistigen Schwierigkeiten und Hindernissen nicht mit Gewalt oder Resignation, sondern mit geschmeidiger und sachgemässer Beweglichkeit zu reagieren.

Ein weiteres wichtiges Studium ist das der Embryonalentwicklung, wozu die Werke des bedeutenden Embryologen Erich Blechschmidt und des anthroposophischen Arztes Kaspar Appenzeller gehören. In deren Darstellungen sind die Gestaltbildungen des heranwachsenden Menschenwesens als eine Lebensschulung des Willens für den heranwachsenden Menschen zu erleben.

Will man die hier angedeutete Arbeit in einer kurzen Formel zusammenfassen, so könnte diese so lauten:

Die Kunst des pädagogischen Balgens im Sinne der von Werner Kuhfuss entwickelten Erfahrungweise ist ein kommunikativer Austausch über den Willen und die Leiblichkeit, wobei  der Erwachsene dem Kinde eine Herausforderung anbietet, auf die das Kind dann bejahend antwortet, wenn es die freilassenden Absichten des Erwachsenen erkennt. Wenn dieses Element gelingt,  dann stellt sich heraus, dass nicht der Erwachsene etwas am Kind vollzogen hat, sondern dass das Kind den Erwachsenen als Widerlager benutzen lernt, um seine eigene Leiblichkeit und damit sein Körperschema mit dem Willen frei zu erfassen.

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