Die Entstehung der Kalliasübungen – Eine soziale Kunst. Teil 1.

Die soziale Frage ist eine Frage der Bewegungen. Werden die Verhältnisse zwischen den Menschen nicht von erhellenden und harmonisierenden Bewegungen ergriffen, so schlagen sie um in chaotische Gegenbewegungen. Revolutionen und soziale Unruhen sind die Folge von nicht ergriffenen  Bewegungen.

Eine Kunst kann niemand  erfinden. Die vorhandenen Künste: Architektur, Skulptur, Malerei, Musik, Dichtung und Tanz  sind entweder in Urzeiten aus den Mysterientempeln, den heiligen Orten der Menschheit in die Geschichte eingeflossen, oder wie die Eurythmie inauguriert, das heisst aus dem Bewusstsein eines modernen Eingeweihten gleichsam in einer höheren Sphäre aufgefunden und unter die Menschen gebracht.

Die Kallias – Übungen hingegen sind zwischen den Menschen zu finden, in ihren Relationen zueinander.

Aber auch sie sind nicht erfunden, sind niemals ausgedacht zu irgendeinem Zweck und Nutzen.

Das Studium von zwei Schriften schon in jungen Jahren ging dem Finden diese Übungselementes voraus: von Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit und von Friedrich Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen.

Das Schicksal hat dann  in meiner Biografie  zunächst zu der Begegnung mit dem Musiker und Heilpädagogen Julius Knierim geführt. Durch acht Jahre war ein Eintauchen möglich in das Erüben und Aufführen von vielerlei musikalischen Werken, wovon die mehrjährige Arbeit an Mozarts Zauberflöte der Höhepunkt war. Knierim aber war nicht nur ein besondere Musiker, sondern ein Meister der Zeitgestaltung, nicht nur bei musikalischen Aufführungen, sondern bei den Gestaltungen der vielen Feste im Rahmen des Heilpädagogischen Institutes Michaelshof in der Schwäbischen Alb. Die Zeit als ein fliessendes und wesenhaftes Element war unter seiner Führung der Menschengemeinschaft so zu erleben, dass sie gleichsam frei entstand und die gemeinsamen Gestaltungen trug.

Das zweite Element, das mir das Leben entgegenbrachte, war das künstlerisch übende Erforschen des Wassers. Es begann zu der Zeit, als Theodor Schwenks epochales Werk über das Wasser Das sensible Chaos erschien und ein naher Freund, Johannes Schnorr, aus unserer suchenden Gruppe von jungen Leuten  Mitarbeiter von ihm wurde. Die Begegnung mit Schwenk und seiner Arbeit führte  bei mir zu einer langjährigen Beschäftigung mit dem Wasser als einem strömenden Medium.

Im Spannungsfeld zwischen Wasser und Musik, wobei die ständige eigene poetische Arbeit mit der Sprache dazu kam, tauchten dann deutliche Empfindungen von Bewegungsabläufen auf, welche an die inneren Bewegungen anschlossen, die durch Schillers und Steiners Gedankenformen erzeugt wurden. Denn lebendiges Denken ist sowohl strömend wie musikalisch und läuft parallel mit den Bewegungen der Sprache. Alles aber blieb zunächst im Bereich der Empfindungen und der suchenden, zunächst offenbar ziellosen Tätigkeit mit diesen Elementen.

Was in Wasser und Musik scheinbar leicht dahin fliesst, ist bei genauer Wahrnehmung von strengen dynamischen Strukturen durchzogen, die man reale Gedanken nennen kann und welche, was auch die Musik betrifft, ihren Bezug zur Mathematik haben, den ein Musiker kennt.

Das Leben brachte den nächsten Schritt nach meiner Auswanderung 1965  nach Schweden. Dort war die Begegnung mit der musikalischen Improvisationsarbeit des Komponisten und Pädagogen Pär Ahlbom eine weitere Annäherung an das kommende und keimende Element der Bewegungen, die später den Namen Kallias erhielten.

Nicht unbedeutend war darin auch der Einschlag durch die neu entstehende musikalisch-instrumentale Klangwelt der Choroi-Instrumente des Holländers Norbert Visser, an dem ich anfänglich beteiligt war bei dem Aufbau der Choroi – Instrumentenwerkstatt in Järna bei Stockholm. Später schloss sich daran an der Instrumentenimpuls von Manfred Bleffert, die Musikalische Schmiede am Bodensee.

Bald wurde mir aber bewusst, dass das Verbleiben in der reinen Musikalität eines bestimmten Elementes entbehrte, das ich damals noch nicht benennen konnte und was dazu führte, dass ich wöchentlich mit Menschen in Järna, Spielabende mit Gruppen durchführte, die einen improvisatorischen und suchenden Charakter hatten und die parallel mit Ahlboms musikalischer Improvisation an verschiedenen Wochentagen  stattfanden. Viele Menschen nahmen an beiden Arbeiten teil.

Doch blieb bei mir auch hier ein Ungenügen zurück. Es war allzu sehr ein Probieren, mit manchmal  mühsamen, manchmal mit, dem schwedischen Empfindungsnaturell entsprechend,  losgelöst-ekstatisches Momenten. Es hinterliess die Ahnung: irgendwo ist es, aber das ist es noch nicht. Endlich war die Grenze erreicht, um diese doch als Übergang wertvolle Phase zu beenden.

Die tägliche Arbeit mit autistischen Kindern und psychotischen Jugendlichen, später auch mit Drogenpatienten, brachte die notwendige Anbindung an die ernste Wirklichkeit des Lebens und des Schicksals. Das Therapeutische Spiel als eine künstlerische Arbeit mit Autisten entwickelte sich, auch als handfeste Körperübungen und wurde in einem Heft als Evolutionstherapie (Evolution genom lek) 1979  mit Abbildungen dokumentiert.

Die Tätigkeit mit dem Wasser, dem Wort wie mit dem lebendigen Denken brach  indessen nie ab. Das allmähliche Aufnehmen des Schwedischen, welches eine Sprache der fein nuancierten fliessenden Empfindungen ist und dadurch verwandt sowohl mit dem Wasser wie mit der Musik, war  ein Eintauchen in ein den ganzen Menschen ergreifendes, erlösendes und belebendes Element.

Erst später in der Schweiz, in der Zeit der Begründung eines neuartigen Kindergartens und in der Begegnung mit den Menschen, der Sprache und  der Landschaft Graubündens entstand auf diesem harten wie auch warmen Boden,  die Widerstandsebene, auf der im Umgang mit den Freunden die ersten Ursprünge von Gruppenbewegungen sich zeigten. Sie  enthielten endlich das, was lange entbehrt wurde. Die beweglichen Relationen zwischen Menschen, deren Leiber in leichter Bewegung sich zueinander verhielten, wurden sichtbar und begannen, Gestalt anzunehmen.

Es war im Sommer 1984, auf einer Bergwiese oberhalb der Stadt Chur, als ich mich entschloss, mit den entstehenden Elementen nach aussen, in die Öffentlichkeit zu gehen. Eine kleine Gruppe von älteren und jungen Freunden half bei dieser Geburt. Der damals sehr bekannte Schweizer Theatermann und Bildkünstler Kaspar Fischer war in diesen Tagen im Zurücknehmen der eigenen Originalität ein stiller Geburtshelfer. Seiner und seiner Schwester Barbara Fischer-Hamblett, der immer hilfreichen Freundin vieler Menschen in der Schweiz, in Schweden und Neuseeland, beide allzu früh verstorben, sei hier mit Liebe und Dankbarkeit gedacht

 

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