Was ist Schul-Reifung?

Die hier angedeuteten Gedanken sind begründet unter anderem in jahrzehntelanger praktischer Arbeit mit Kindern im Kindergarten, die kurz vor dem Übergang in die Schule waren. Es sind Gedanken und Leitlinien, die aus der Arbeit und dem Umgang mit den Kindern herausgeholt und nicht aus ideologischen Gründen in sie hineingelegt sind.

Von zwei Seiten wird in dieses Alter etwas hineingelegt, einmal durch den gesetzgebenden Zwang, der in der sogenannten Früherziehung liegt. Hier wird in einer nicht sachgemässen und von einem Fremdgebiet  kommenden Weise das Kind bedrängt als Rohstoff  (Humankapital) für eine funktionierende Wirtschaft.

Zum anderen ist es eine abstrakt verstandene pädagogische Ansicht der Waldorfpädagogik, die davon ausgeht, dass Reifung gleichsam natürlich und von selber, also nur durch den allgemeinen ruhigen Ablauf des pädagogischen Schemas, sich ereignet. Beides ist unrichtig, weil es nicht von der Wahrnehmung des Tatbestandes ausgeht. Der Tatbestand aber sind die real vorhandenen individuellen Kinder und deren verschiedenartigen Bedürfnisse, vor allem gegen Ende des sechsten Lebensjahres. Die Kinder jedoch sind nicht und niemals Objekte einer Erziehung mit welchen Absichten und Zielen auch immer, sondern deren Subjekt. Das heisst: ein Mensch in welchem Alter er sein mag, kann sich nur selbst erziehen. Gute Pädagogik ist somit Hilfsdienst zur Selbsterziehung.

Geht man mit ihnen so um, dass sie es selber sind, die sich erziehen und in dieser Erziehung reifen, dann verhalten sie sich anders, als wenn man sie „erzieht“, sie aus pädagogischen Gründen „in Ruhe lässt“ oder sie „fördert“ zu einem von aussen herangebrachten Zweck. Das heisst: wir haben einen anderen Tatbestand, wenn wir die Freiheit und Souveränität des Kindes voraussetzen und ihm im Zusammenwirken mit ihm die Handreichungen geben, die es selber nicht zu leisten vermag. Oder wenn wir über seinen Kopf und seine Individualität hinweg abstrakt und kurzatmig glauben zu wissen, was ihm gut tut und ihm das auf die eine oder andere Art zufügen.

Wobei das heutige öffentliche Schulsystem die Lüge enthält, welche verbirgt, dass es nicht um das Individuum, sondern um das sogenannte  „Humankapital“, um den Wirtschaftsrohstoff Mensch geht, der im gnadenlosen Wettbewerb alle anderen übertreffen oder dann eben untergehen soll, wenn er nicht mehr gebraucht wird.

In beiden Systemen, dem nach der materialistischen und darwinistischen Ansicht notwendigen Frühförderung, die rein quantitativ und mengenmässig gesehen wird, und dem der gleichsam natürlichen und sich selbst ereignenden Reifung im Rhythmus der Jahrsiebente, wie sie die Waldorfkindergartenpädagogik annimmt, wird davon ausgegangen, dass von der frühen Kindheit, also meist vom Kindergarten, hin zur Schule nur ein  Schritt liegt. Das Kinderleben geht also einfach weiter, nur dass eben eine  sich selbst ereignende Reifung erfolgt oder diese durch zweckmässige  Förderung erreicht  wird.

Die Wirklichkeit ist eine andere. Das Kind im ersten Lebensjahrsiebt ist qualitativ biographisch ein anderes als das Kind danach im sogenannten Schulalter. Es lässt sich verkürzt so ausdrücken: je kleiner das Kind ist, desto allgemeiner und weltumfassender verhält es sich und will es behandelt werden. Im Spiel, und das Spiel ist sein Werkzeug und sein Wesen, ist es gleich einem Wassertropfen, der die gesamte Welt spiegelt. In jedem Gegenstand, in jedem, auch dem kleinsten Handlungsverlauf ist immer die ganze Welt anwesend. Im Spiel gewinnt das Kind eine Basis, die eines Dreiecks, das im Schulalter erst gleichsam nach oben geht. Je früher die „Förderung“, desto schmäler die Lebensbasis, je  mehr Zeit zu einer begleiteten Reifung, desto breiter und kräftiger wird sie sein für Leib, Seele und Geist des heranwachsenden Menschen.

Diese nach allen Seiten geöffnete Haltung der Welt gegenüber setzt  völlige Freiheit voraus und führt zu ihrer lebenslangen Bestätigung – wenn die menschliche Umgebung  das tut, was sie zu tun hat – nämlich die aktive Zeugenschaft (Alice Miller) zu vollziehen, nach der das Kind verlangt. Ohne diese Zeugenschaft vollzieht sich die rechte Reife sowenig, wie ein Mensch ohne Namen existieren kann. In der Zeugenschaft liegt die Bestätigung und Kräftigung der Selbstverwirklichungsfähigkeit des Menschen, die mit der Geburt in die irdische Realität eintritt.

Diese Zeugenschaft in eine moralische Technik zu verwandeln, die der Erwachsene zu lernen hat, das ist das Neue in unserer Zeit, ohne welches die notwendige Reifung des Kindes am Ende des reinen Spielalters nicht oder nur unvollständig eintritt. Diese Technik kann nur eine moralisch-künstlerische sein.

Es handelt sich um das Erlernen einer neuen, sozialen Kunst. Und als solche bezieht sie sich nur auf den Erwachsenen selbst. Seine Selbsterziehung, die Technik  seiner eigenen Umgestaltung allein wirkt freilassend und bestätigend auf das Kind. Diese Technik ist bei Goethe zu erlernen, bei Leonardo da Vinci, nicht zuletzt auch bei dem grossen Pädagogen Martin Wagenschein. Es ist die Technik des phänomenologischen Lernens vom Spiel des Kindes.

Das Kind versucht im Spiel, die menschliche Kulturentwicklung spurenhaft nachzuvollziehen (Frederik Adama van Scheltema).  Wer von dem Kinde zeugenhaft und künstlerisch-phänomenologisch lernt, kommt also selber wieder in den Strom der menschlichen Kulturentwicklung hinein, mit dem er selber unbewusst als Kind einst verbunden war. Die Künste wie die Wissenschaften entwickeln sich unter seinen Augen und Händen. Und so ist der Erwachsene ein forschender Genosse des Kindes. Das allein ist  diese Zeugenschaft. Und sie allein weckt und bestätigt sowohl die Lust am Leben, wie es die Quelle aller Bildung als Selbstverwirklichung des Individuums enthält.

Schul-Reife bedeutet auf diesem Weg eines vor allem: Abschluss der umfassenden Freiheit des Spielalters, aber auf solche Weise, dass die Selbstbestimmung unverlierbar erfahren wurde und auch im Druck der notwendigen verengenden Leistung der Schule und auch im Leben später nicht wieder verloren gehen wird.

Dieser Abschluss, wenn er als die beschriebene Zeugenschaft mit der Kulturtechnik des gemeinsamen Lernens an Phänomenen geschieht, ist zu vergleichen der Fassung einer Quelle. Es ist die Fassung des selbstbewirkten Bildungsstromes, der in jedem Menschen als Interesse an der Welt veranlagt ist. Das Wesentliche ist  das Ganzheitliche und frei Ergriffene in diesem Strom. Und so, wie eine ungefasste Quelle immer vom Versiegen bedroht ist, so ist die Veranlagung des Interesses an der Welt  im jungen Menschen rasch verschüttet, wenn sie auf Druck und Zwang stösst. Ist jedoch das Selbstvertrauen als Erfahrung einmal geweckt und in der Freundschaft zu einem Erwachsenen bestätigt, so kann es unverlierbar werden. Buchstäblich wird ein solcher Mensch niemals die Fassung verlieren, als die der individuellen Quelle des nie versiegenden Weltinteresses, als die er sich fühlt. 

Die Schule, die so wichtig erscheint, ist so gesehen nur eine Ableitung der Gesamtfähigkeit, der Quelle also, die im Spielalter zu fliessen begonnen hat. So gewinnt die Schule, die das Element der Forderung und damit einer gewissen Unfreiheit und Pflicht enthält, indem die Kraft der Neigung und der Liebe zur Welt und ihrer Phänomene eben nicht verschüttet, sondern durch die Anforderungen dann eher gestärkt wird. Dem freien Spiel folgt das Lernen, das schon Arbeit ist, also Leistung gegen Widerstand. Das Lebensgesetz wird dann bestätigt, das besagt.: zu grosse Herausforderung schädigt das Leben, zu geringe schwächt es und die richtige stärkt und regt es an. Die Quelle des Lebens und seine Kraft liegen in der Reifung, die im Zusammenwirken mit dem kundigen Erwachsenen erreicht wird.

Diese Gedanken und Erfahrungen, die einzusehen sind, weil wir sie als einen Teil unseres eigenen Lebens in der Kindheit wiedererkennen, wenn wir uns darum bemühen, müssen nun einfliessen in die Gestaltungen, welche die neuen Bestimmungen und Gesetze fordern. Sowohl im Kindergarten wie in den Übergangsformen, in gewissen Bundesländern Brückenklassen oder Schuleingangsklassen genannt oder in den Schulen selbst, müssen nun Formen gefunden werden, die den Kindern gerecht werden.

Die kindliche Entwicklung kann nicht den Bestimmungen gerecht werden. Die Gesetzgeber setzen nicht die menschlichen Entwicklungsgesetze ausser Kraft. Sondern innerhalb der guten oder schlechten Gesetzesbestimmungen haben in einer Demokratie immer noch die beteiligten Menschen die Freiheit, ihnen entsprechende Gestaltungen zu finden, wenn sie das entwickeln, was den Menschen auch auszeichnet: Phantasie, Intuition und Mut.

Denn der Staat sind wir.

Literatur

Werner Kuhfuss Projekt Sinnbildung im Kindesalter 2007

Frederik Adama van Scheltema  Die geistige Wiederholung 1934

Martin Wagenschein Kinder auf dem Wege zur Physik 1990

Martin Wagenschein   …. zäh am Staunen  2002

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