Was bildet die Strukturen in einem Kindergarten?

Es wird meistens übersehen, dass die Kinder, wenn sie in den Kindergarten kommen, aus einer sehr nahen und intimen Struktur, der der Familie, zunächst einmal herausgerissen, dadurch also verwundet sind. In einer intakten Familie lebt das Kind im Spannungsfeld der Polarität von Vater und Mutter mit entsprechenden Zuneigungen und Geborgenheiten.

Kommen noch grosse und kleine Geschwister dazu, dann ist das Kind in der Familie eingebettet in ein Kraftfeld, das, wie auch immer es im Einzelfall ist, Verhaltensweisen, Freud- und vielleicht Leidvolles, Angenehmes und Unangenehmes enthält und im Ganzen eine Schutzhülle bildet, in der Strukturen entstehen.

Solche Strukturen sind mehr oder weniger feststehende Gewohnheiten, an denen sich das Kind halten und in denen es sich orientieren kann. Vor allem sind solche natürlich gewachsenen Strukturen für ein kleines Kind im Gefühl und im Willen überschaubar.

Kommt nun ein solches Kind in den Kindergarten, ist alles fremd, die Erwachsenen, die neugierigen Augen der vielen Kinder, deren ungewohnte Bewegungen und Verhaltensweisen, die Räumlichkeiten, die Lichtverhältnisse, die Farben, die Gerüche. Zum Glück kommen nicht alle auf einmal, aber die meisten Kinder brauchen eine Eingewöhnungszeit, um überhaupt zu bleiben, meist mit der Mutter an ihrer Seite.

Es soll gleich gesagt werden, dass nach unseren langjährigen Erfahrungen im Kindergarten Bienenkorb im Durchschnitt drei Jahre gebraucht werden, damit eine fest verankerte Geborgenheit und eine Orientierung des Kindes im Verhältnis zu allen anderen Personen und vor allem zu sich selbst in seinem individuellen Lebensgefühl entstehen kann. Erst dann ist ein Kind wirklich in der Grossfamilie Kindergarten angekommen und ist ganz sich selbst im Behaupten gegenüber allen anderen Grossen und Kleinen.

Um auf gesunde Weise heranzureifen, sollte das Kind dann ohne Unterbrechung in dieser neuen Umgebung bleiben, bis es im Idealfall sieben Jahre alt geworden ist und in die Schule kommt. Das zeigen unsere jahrzehntelangen Erfahrungen, die nicht aufgehoben werden durch die neuen Bestimmungen einer früheren Einschulung. Reifung lässt sich nicht per Gesetz beschleunigen

Wenn also von Strukturen im sozialen Gefüge eines Kindergartens gesprochen wird, müssen die Kräfteverhältnisse, gleichsam die soziale Physik innerhalb eines solchen Menschengruppe, nicht nur gekannt, sondern auch praktisch erfahren sein, bevor sie beurteilt werden. Sollte ein ungeübter Mensch, so eine Mutter, die ihr einzelnes Kind in den Kindergarten bringt, unverhofft eine Kinderschar von zehn bis zwanzig Kindern betreuen müssen, das Chaos würde ausbrechen. Das sollte man bedenken, wenn man die wirklich zu leistende Arbeit im Kindergarten beurteilt.

Die Angst vor dem Chaos hat nun im Laufe der Zeit Methoden hervorgebracht, welche durch verschiedene Massnahmen ein Chaos verhüten und Strukturen erzeugen sollen. Die gängigste Methode ist die der Disziplinierung der kindlichen Willen. Am besten, so meinen die Verfechter dieser Methode, ist Strenge, mit der man den Kindern Grenzen setzt.

Dieser Strenge verleiht man Nachdruck durch konsequente Massnahmen. So sagt man dem Kind bestimmt, wenn du deine Schuhe nicht anziehst, dann …. Und darauf kommt die Androhung einer Massnahme. Handelt das Kind gegen die Anweisung, dann zieht man konsequent die Massnahme durch und so immer fort, bei allen Kindern, in allen Situationen. Das schafft klare Situationen, die Kinder lernen gehorchen, deutliche Strukturen sind für alle beteiligten erkennbar.

Doch was hat man geschaffen? Einen Polizeistaat im Kleinen, und wenn er noch so lieblich und ästhetisch daherkommt. Der Psychoanalytiker Helmut Schulze nennt das das progressive Domestizieren des Menschen. Das heisst, das Kind wird auf ähnliche Weise gezähmt wie ein Haustier. Wenn man so handelt, befindet man sich in eine Tradition, die sehr weit in die Geschichte des Christentums zurückreicht, wo man der Ansicht war, dass aus einem Kind nichts wird, wenn man es nicht mit Strenge erzieht.

Ganz bestimmte Richtungen, wie die englischen Puritaner oder auch in kirchlichen Kreisen ging man sogar davon aus, das Kinder ihrem Wesen nach böse sind, dass ihnen das Böse ausgetrieben und das Gute eingeprägt werden müsse.

Wer also Strukturen in einem Kindergarten erzeugt durch Erzwingen von Gehorsam durch strafende Massnahmen, der muss bedenken, welcher Tradition er unbewusst folgt. Man kann Gewalt auf Kinder auch ausüben ohne körperliche Züchtigung, wie sie früher üblich war. Verborgene Gewalt ist auch möglich unter dem Mantel von scheinbarer Freundlichkeit.  Wenn, wie es tatsächlich in einigen heutigen Kindergärten üblich ist, dem Kind, das ein unpassendes Wort gesagt hat, den Mund mit Seife ausgewaschen wird, muss eher gefragt werden: Wer setzt den Erziehern Grenzen?

Wer ein Empfinden für Stimmungen hat, der wird in einem derartigen Kindergarten unmittelbar spüren, dass die Kinder unfrei sind. Die Stimmung hat dann etwas Graues über sich. Wer Übung darin hat, sieht das auch an den Bewegungen der Kinder, die eher zaghaft sind und nicht selten von Angst und gestauten Aggressionen zeugen. Solche Kinder, kommen sie ins Freie, fallen dann hin, tun sich weh, können nicht geschickt auf einen Baum klettern und geraten ausser sich, wenn der beaufsichtigende Erwachsene einmal nicht dabei ist. Wer viele Kindergärten kennt, weiss von solchen, eigentlich hilflosen, Methoden, die Strukturen erzeugen sollen. Doch wer auf diese Weise arbeitet, kennt die wahre Natur des Menschen nicht.

Wer durch viele Jahre mit Kindern, vor allem kleinen, auf eine freie Weise zu arbeiten versucht, wie der Verfasser dieser Zeilen mit seinen Freunden, der weiss, dass zum einen Kinder Erwachsene spiegeln, das heisst nachmachen. So kann man gewiss sein, dass Kinder in einem Kindergarten, die ständig ungehorsam sind oder verhaltensauffällig, etwas nachahmen, was in Erziehern oder Eltern ungelöste Willensprobleme sind.

Wenn Kinder schwierig sind, sollte man zuerst sich selber und seine seelischen Verhältnisse anschauen. Wer anfängt, seine eigenen Probleme zu erkennen und allmählich aufzulösen, wird merken, dass auch die Kinder ihr Verhalten ändern.

Zum anderen gibt es die positive Haltung des Vorangehens. Ein schönes Bild des Schweizer Malers Albert Anker zeigt ein junges Mädchen in einer Landschaft, dem eine Kinderschar freudig nachfolgt. Auch wenn das Bild heute romantisch wirkt und vielleicht idealisiert, so zeigt es doch ein Urbild, das immer gültig ist: Ein erwachsener Mensch, ja ein gar nicht viel älteres Geschwister nimmt sich etwas vor, lädt die Kinder ein, mitzumachen und geht voran. Das ist Lebenswirklichkeit ohne pädagogische Absichten.

Das Erzübel aller Pädagogik ist die pädagogische Absicht. Man stelle sich eine Partner- oder Ehe-Pädagogik vor, wo der Eine den anderen in seinem Willen zu beeinflussen sucht nach einem psychologischen Erwachsenenprogramm. Niemand würde sich das gefallen lassen. Auch Kinder lassen sich pädagogische Absichten – zu Recht – nicht gefallen. Aus einer gedanklichen und seelischen Unlogik heraus glaubt man Kinder zwingen oder pädagogisch überlisten zu dürfen, mit dem Ziel, dass dadurch aus ihnen einmal freie, selbstbestimmende Menschen werden sollen.

Doch Freiheit entsteht nur durch Vorleben der Freiheit. Grenzen werden von Kindern nur da zu Recht beachtet, wo der Erwachsene sich selber Grenzen setzt, indem er Mass hält. Äussere Grenzen sind nur dann lebensecht, wenn sie von innen, aus der Mitte, aus dem Herzen gesetzt sind. In den Kindern die Fähigkeit zu wecken, das innere Mass zu halten, das allein kann das Ziel einer freien Pädagogik sein.

So kann nur der Kinder gesund und frei erziehen, der anderes im Sinn hat, als „Pädagogik“ zu betreiben. Eigentliche Pädagogik darf nur das sein, was aus dem freien und frischen gemeinsamen Leben gleichsam hinterher als mitteilbar abfällt. Und das ist jeden Tag und bei jeder Begegnung etwas Neues, eben Entstandenes. Festgelegte Pädagogik hindert das Leben.

Das heisst mit anderen Worten: Wahre und echte Pädagogik ist eine Kunst, eigentlich die höchste denkbare soziale Kunst. Ihre Mittel sind schöpferische Phantasie und ein feines Taktgespür. Wer diese Bedingungen nicht erfüllt, der sollte zunächst Gärtner, statt Kindergärtner werden. Es sollte vom Wachstum der Pflanzen lernen und die Natur beobachten. So beispielsweise einen guten, echten Bergbach.

Wenn er sich die Mühe macht, den Wasserlauf eines solchen Baches zu studieren, wird er einiges auch für das Leben mit Kindern lernen können. Zum Beispiel dies: auch das wildeste Wasser wird das zarte Moos und die feinen Gräser am Ufer nicht beschädigen. Kein Wasserpädagoge hat den Strom mit Massnahmen bedroht, trotz seiner Wildheit sorglich mit dem Ufer umzugehen.

Solche Wasserpädagogen gibt es allerdings an anderen Stellen, da wo man mit Betonverbauungen dem Wasser dann Grenzen zu setzen versucht, wenn es seinen innern Halt verloren hat. Die Folge sind noch grossere Wut des Wassers und schlimmere Verwüstungen, an vielen Orten anzuschauen in den Bergen oder bei den begradigten grossen Flüssen. Wo aber ist der Halt des Wassers? In der Mitte des Stromes. Das wird der lernen können, der sich an der Natur auf das Leben der Kinder vorbereitet.

Wer gesundes Wasser daraufhin prüft, wird in der Mitte des Stromes eine feine, sich wendelnde Linie wahrnehmen. Das ist die gleiche Linie, die man beim Ausgiessen des Wassers in der Mitte des Wirbels sehen kann, Wasser wirbelt und wendelt immer um eine unsichtbare Mitte. Giesst man Wasser an einer glatten Fläche entlang, so bildet es schlängelnde Formen, rhythmisch pulsierend, aber immer von innen gehalten. Eine solche Wasserschlage ist in jedem guten Bach als die Mitte, die mäandernd nach aussen pendelt, dort die Ufer bildet und sich selber Grenzen setzt. Ein Fluss bildet sein Ufer, ein Ufer bildet keinen Fluss.

Solcherart ist auch der Wille des Menschen veranlagt. Den äusseren Begrenzungen widerstrebt er, den Gewinn des inneren Haltes geniesst er. Versteht man, den Genuss der Kinder hinzulenken auf die spontane und unbewusst wirkende Anlage, das Mass und die Mitte zu halten, gewinnt man zweierlei: Das Verhalten der Kinder bildet sich natürlich und von innen im Laufe der Zeit, die man ihnen gibt. Und die Kinder fühlen und geniessen ihre wahre wachsende Freiheitsfähigkeit.

Solche Kinder sind durchaus fähig, einem Erwachsenen seine Grenzen zu zeigen, solcherart, dass einem die Schamröte ins Gesicht steigen könnte, wenn man die Berechtigung eines solchen gradlinig geäusserten Hinweises erkennt. So war es vor vielen Jahren die blonde Lena-Marie, damals sechs oder schon sieben Jahre alt, sie sass mit anderen Kindern in einem lockeren Kreis vor mir und ich glaubte einen Scherz machen zu sollen, den ich dann im selben Augenblick als danebengegriffen bereute. Aber schämen tat ich mich, als das Mädchen, ohne sich umzudrehen mit der Betonung eines Pädagogen, der ein missgeratenes Kind zurechtweist, sagte: Du nervst mich! Die Lehre, die ich daraus zog, werde ich nie vergessen.

Oder Leon, mein Meister, auch fast sieben Jahre alt, als wir Gipsabgüsse auf einer grossen getriebenen ägyptischen Messingschale machten, mein Abguss aus dickem Gips zerbrach und ich ihn etwas verspottete, wie er neben mir eine vermeintlich zu dünne Gipsschicht auftrug, ich ihn dann einen Augenblick vergass, wonach er mir die abgelöste Schicht, hauchdünn und perfekt zeigte, mit den ein wenig nachsichtigen Worten. „Werner, weisst Du, du hast zum Abklopfen den dicken Hammer benutzt. Siehst Du, mit dem Klöppel vom Klangspiel geht das viel besser!“ Da wir gute Freunde waren, konnte ich mich schämen, und wir lachten gemeinsam.

Wenn wir den Kindern im ersten Jahrsiebt einen wirklichen Lebensort bieten wollen, dann müssen wir mit ihnen einen Umgang pflegen, der mehr ist als Pädagogik. In diesen Jahren wird die Basis des zukünftigen Lebenslaufes gelegt. Je mehr ein ungezwungenes soziales Miteinander entsteht, das ein Vorbild nicht nur für Kinder, sondern für alle Menschen in der heutigen Welt sein kann, umso sicherer werden die Kinder als Heranwachsende spätere Krisen bestehen können.

Ein zukünftiger Kindergarten kann ein soziales Modell werden, ein kleines Gemeinwesen in sich, in dem Regeln, Rechte und Pflichten für alle gelten, Grosse und Kleine. Wer genau hinschaut, kann die Keime eines freien Kulturlebens, eines ausgleichenden Rechtslebens und eines brüderlichen Wirtschaftslebens entdecken und pflegen, nach dem Motto: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Kulturleben besteht im Achten der jeweiligen Individualität und im gegenseitigen Anregen der schöpferischen Fähigkeiten von Grossen und Kleinen. Rechtsleben besteht in der Entwicklung des Taktes für Situationen, wo die Durchsetzung des eigenen Willens mit der Achtung der anderen Willen in einen Ausgleich zu bringen ist. Brüderlichkeit ist anschaulich im gemeinsamen Essen, im Einander-Helfen, im Mitgefühl auch einmal mit dem Grossen, der auch traurig, fröhlich, müde sein darf und das auch zu zeigen vermag.

Wie alle Eigenschaften und Fähigkeiten des Kindes ist auch soziales Verhalten, sind Moral und Religiosität ein Ergebnis des Forschens und Ausprobierens. Nur wenn wir alle miteinander den Weg gemeinsamer forschender Entwicklung gehen, als Lebensgestalter der Zukunft, werden in einem Kindergarten Strukturen entstehen, die eine Orientierung für das ganze zukünftige Leben sind.

Wer so mit den Kindern lebt, wird spüren, dass im tieferen Sinn nicht wir die Kinder, sondern die Seelen der Kinder uns leiten.

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