Grundelemente eines kindgemässen Kindergartens

Pädagogik ist immer in der Gefahr, etwas auszudenken und festzulegen, was vermeintlich gut für das Kind ist. Man will ein Kind zu etwas erziehen, was man gut findet. Dahinter steckt somit immer eine persönliche, damit subjektive und begrenzte Sichtweise. Das bedeutet, auch wenn man sich dessen nicht bewusst ist, eine Weltanschauung. Weltanschauungsfreie Pädagogik gibt es nicht. Die heute herrschende staatliche Weltanschauung ist eine rein materialistische und hat das Ziel der wirtschaftlichen Nützlichkeit. Also ist es gut für das Kind, es zum Nutzen der Wirtschaft so früh wie möglich zu erziehen.Die heute allgemein noch geltende Waldorfkindergartenpädagogik geht davon aus,  dass gewisse Dinge gut für das Kind sind, was bestimmte Menschen Ende des letzten Jahrhunderts in einer bürgerlichen Welt als ein  Ideal ansahen. Sie entwarfen das Bild eines idealen Modellkindes, wonach jedes individuelle Kind seit dieser Zeit versucht wird zu formen.

Entsprechendes wird man in allen pädagogischen Richtungen finden: nämlich Menschen, die sich berufen fühlen, zu wissen, was nach ihrer Meinung gut und nützlich für ein Kind sei. Und dieses Kind ist immer ein allgemeines, dadurch aber nie das individuelle Kind, das jetzt und hier vor einem steht und also keinem anderen Kind gleicht.

Eine solche Denkweise kann nicht die unsere sein, kann nicht sein die einer Weltanschauung, die gerade das Gegenteil von einem allgemeinen und damit gleichartigen Menschen anstrebt. Diese Weltanschauung ist der Ethische Individualismus der Anthroposophie. Dieser geht von der Freiheitsphilosophie aus, die Rudolf Steiner begründet hat. Entsprechend einer solchen Denkweise  kann es keine Pädagogik geben, die von dem Ideal eines  allgemeinen Modellkindes ausgeht, zu welchem jedes Kind zu erziehen sei.

Es kann überhaupt nicht darum gehen, das Kind zu etwas anderem zu erziehen, als zu dem, was es selbst ist und werden will. Ich kann also, wenn ich die Freiheit des Ethischen Idealismus anstrebe, nicht im Voraus wissen und  als Pädagogik festlegen, was für ein individuelles Kind „gut“ sei. Das heisst: ich muss in jedem Augenblick von dem vor mir stehenden Kind zu lernen bereit sein.

Wir müssen , um aus dieser Voraussetzung sinnvolle Wege zu finden, uns frei machen von der allen Berufen anhaftenden Berufsblindheit, also auch von der eines Berufspädagogen. Menschen auf den Weg zu helfen, kann nicht die Aufgabe eines zu erlernenden Berufes sein. Denn jedes Erlernen eines allgemeinen Fachwissens im sozialen, menschlichen, kulturellen Bereich verengt den Blick auf die Wirklichkeit, in diesem Falle auf das einzigartige und unverwechselbare Kind in diesem unwiederholbaren Augenblick. Wenn also Fachwissen erlernt ist, ohne welches heute niemand Erzieher sein kann, dann ist es zu vergessen, wenn man einem wirklichen, individuellen Kind gegenübersteht.

Es ist so, wie wenn jemand Kunst an der Akademie studiert hat. Wenn er neue Kunst schaffen will, muss er das Erlernte hinter sich werfen, sonst reproduziert er nur Altes. In der pädagogischen Kunst, wie sie der Anthroposophie entsprechen sollte, braucht das Kind, ja braucht auch der Pädagoge das Neue, Unerwartete, das in jeder Situation dann entsteht, wenn man es wahrnimmt. Routine ist das schlechteste Mittel, um Menschen in ihrer Entwicklung weiter zu bringen. 

Die heutige Wirklichkeit ist zugleich aber auch diese, dass Kinder in Kindergärten kommen und ihnen etwas geboten werden muss.

Wie können wir  auskommen ohne eine vorgefasste Pädagogik, die in dem Moment, in welchem das Kind in die Obhut eines Kindergartens kommt, aus dem Kind etwas machen will, was wir uns vorstellen?

Die Zeit der antiautoritären Pädagogik, wo Nichtstun der Erwachsenen das erstrebenswerte Ziel war,  ist zum Glück  vorbei. Wie ist nun zu handeln, wenn man das Kind freilassen will, aber doch so, dass es nicht ins Leere fällt? Indem man mit aller Sorgfalt eine vorbildhafte Umgebung schafft.

Der Schlüssel zu dieser widersprüchlichen Aufgabe liegt in der dem kindlichen Alter angemessene Fähigkeit nachzuahmen. Wer das Nachahmungsvermögen des Kindes in den ersten sieben Jahren, also in dem Alter des Spieles wirklich kennt, weiss, dass er sowohl das Kind freilassen und trotzdem auf seinen Willen wirken kann –  durch sein eigenes Vorbild. Die heute herrschende Psychologie schenkt diesem Verhältnis keine Aufmerksamkeit.

Die Tatsache als solche ist jedoch jedem bekannt: zuallererst durch die eigenen Erfahrungen in der Kindheit. Alles was ich wirklich in meiner frühen Kindheit in die Tiefe meines Willens im guten Sinne aufgenommen habe, geschah aus  Hinneigung zu etwas, was geliebte Menschen in meiner Umgebung getan haben. Alles aber, was sie predigend, mahnend, fordernd  von mir verlangten oder verboten, hat  Vertiefungen, hat Dellen in meiner Seele, in meinem Willen gebildet, gleichsam Kältezonen, wo hingegen die Nachahmung aus Liebe in Wärme geschah. Die Wärme förderte die Lebenslust und stärkte den Willen bis in den Körper hinein. Die Kälte zog die Seele zusammen, wirkte kränkend, und man wollte ihr entkommen.

Warum ahmen Kinder solches so gerne nach, was wir als negativ erleben? Weil in unserer fordernden und auf das Kind ständig einredenden Welt das Verbotene und Negative oft als einziger Freiraum für das Kind zu erleben ist! Dazu fühlt dann das Kind Macht dem Erwachsenen gegenüber, wenn  es spürt, dass er zusammenzuckt, wenn gewisse „unanständige“ und hässliche Worte fallen, oft solche, die das Kind noch gar nicht versteht, zum Beispiel solche sexuellen Inhaltes. Es sucht Macht, weil wir mit unseren Forderungen es in die Ohnmacht treiben.

Das afrikanische Sprichwort „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“, hört man immer wieder, auch in unserer pädagogischen Welt. Es gibt also auch bei uns Menschen, die sich noch erinnern, wie es war, auf einem Dorf aufzuwachsen. Ein Kind aus dieser Zeit fühlte sich in einer solchen Welt gut aufgehoben und geborgen. Woher kam dieses Gefühl? Es kam aus der Stimmung, die durch erwachsene Menschen verbreitet wurde, welche alle in einem sinnvollen Zusammenhang miteinander und mit der Natur arbeiteten und lebten.

Wer solches selber miterlebt hat, kann mit Recht sagen: Ja, das war die naturgemässe Art für das Kind, sich frei zu fühlen und gleichzeitig getragen zu sein von umgebenden Menschen, von den Tieren, von der Landschaft und dem Wechsel der Jahreszeiten. Das Kraftfeld sinnvoller und strenger Arbeit gab die Intervalle zu freiem Spiel, welches aber  auch die Arbeitselemente nachahmte ( das zeigen viele alte Kinderspiele, die einst von den älteren an die jüngeren Kinder weitergegeben wurden), und so, in Freiheit und von jedem Kind nach seiner Weise aufgefasst, für dieses die seelische und geistige Nahrung  aus der Umgebung herausfiltern liess, welche sich später im Leben  als aufbauend und  schicksalsmässig notwendig  erwies. Denn handgreifliche und sinnenfällige Arbeit eines Handwerkers oder eines Bauern wirkte anregend bis in die Körperbildung hinein und legte ein lebensechtes Fundament in dem Willen des heranwachsenden Menschen. Was sich darin ausdrückte, war gleichzeitig unausgesprochene Moral, denn solche Arbeit diente sichtbar anderen Menschen und somit der Welt.

Wenn wir aus dem Impuls der Kalliasschule heraus nicht Theoretiker und Ideologen sein wollen, sondern wenn wir im getreuen Sinn in der Nachfolge der empirischen Methode Goethes die Wirklichkeit studieren, dann dürfen wir nicht im engen Sinn psychologisch und pädagogisch an das Kind herangehen, sondern im Hinblick auf die Kulturgeschichte. Warum?

Weil das Spiel jedes Kindes Kultur begründet, weil es versucht, das was Kultur ist,  aus der Umgebung abzulesen und damit Anschluss an die Kultur zu finden und damit   seine eigene Biographie  vorzubereiten.

Es handelt sich hier um das heute vergessene, aber dennoch wirksame psychogenetische Grundgesetz, welches,  anschliessend an das  von dem Biologen Ernst Haeckel (1834-1919) formulierte biogenetische Grundgesetz der (leiblichen) Embryonalentwicklung, bedeutet, dass die seelische Entwicklung des Kindes im Spielalter die vergangenen Kulturelemente ansatzweise entdeckend und  erübend nachvollziehen möchte, so wie es leiblich die vergangenen biologischen Stufen der Menschenbildung vollzogen hat.

Der bedeutende Physiker und Pädagoge Martin Wagenschein (1896-1988) hat das in Bezug auf die Physik anschaulich (ohne die allgemeine Formulierung dieses Gesetzes) dargestellt. Der niederländische Kunst- und Kulturforscher Frederik Adama van Scheltema  (1884-1968) hat es zuletzt 1954 ausführlich in seinem Buch „Die geistige Wiederholung“ dargestellt.

Bei beiden fand ich Bestätigung für diese Gesetzmässigkeit, die mir, unabhängig von ihnen, aus meiner Arbeit aufgegangen ist. Allerdings kann ich nicht nur eine Wiederholung, die in unserer Zeit  verflacht und verändert ist, sondern auch eine Vorbereitung für die Zukunft erkennen. In meinen Büchern über Kindergartenpädagogik habe ich dies beschrieben.

Um das bestätigt zu finden, dürfen wir nicht heutige Psychologen und Pädagogen befragen, sondern wir müssen uns die Mühe machen, selber Biographien zu studieren, von bedeutenden und von scheinbar unbedeutenden Menschen. Pädagogik und Psychologie in der heutigen Art sind oft nur kurzatmige Mode-Angelegenheiten. Sie sind zumeist Diener der globalen und darwinistischen Wirtschaftsideologie und der vereinseitigten Gehirnforschung und damit zeitgebunden. Wer die Entwicklung seit Jahrzehnten verfolgt, wird dies bestätigt finden. Biographien hingegen sind erfüllt von Lebenswirklichkeit und zu allen Zeiten interessant,  lehrreich und gültig.

Die Dörfer als Lebensorte für Kinder sind verschwunden. Wollen wir keine   Sozialromantiker sein, dann müssen wir uns fragen, was unserer Zeit entspricht und wie wir heute Orte zu bilden vermögen, welche dem modernen und dem zukünftigen Kind das verschaffen, was früher das Dorf für die Kinder bedeutete.

Wir wollen aber dies festhalten: um einem Kind im ersten Jahrsiebt, also in dem Alter des fundamental wichtigen Spieles, welches Kultur nachbilden und neu erschaffen möchte, gerecht zu werden, müssen wir im Zusammenwirken mit den Kindern Orte bilden, welche Kultur in ihrer weitesten Bedeutung als Umgebung der Kinder wenigstens ansatzweise hervorbringen. Da Kultur aber geschaffen wird von Persönlichkeiten, wird  jeder derartige Ort einen eigenen, unverwechselbaren Charakter haben. Im Austausch zwischen solchen Orten wird der lernende Wettbewerb entstehen, welcher wahre Qualität schafft, nämlich neue Kultur, bei der die Kinder nicht nur nachahmende Zeugen, sondern zu befragende Mitwirkende sind.    

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Essays. Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

Kommentare sind geschlossen.