Was ist Bildung?

Bildung ist heute vor allem ein Schlagwort. Was steckt aber dahinter? So wie dieses Wort heute gehandhabt wird, ist Bildung  eine möglichst grosse Menge von Wissen, die auf möglichst schnelle Weise in  Kinder hineingebracht wird. Vor allem Politiker führen es im Munde, und sie heissen aus diesem Grunde Bildungspolitiker. Sehen diese Politiker die Kinder in Wirklichkeit und wissen sie, wie das, was sie wollen, zustande kommen soll? Sie wissen es nicht, schon aus dem Grunde, weil sie ihre eigenen Kindheits-Erfahrungen  vergessen haben, an der sie sich prüfen könnten.

Denn schon immer galt es: Wissensstoff möglichst rasch und problemlos in Schüler hineinzubekommen. Und wenn wirklich etwas davon  in sie hineinkam, lag das nicht an der Einsicht von   Pädagogen und Politikern, sondern an der Fähigkeit von Menschenkindern, sich auch den seltsamsten und unmöglichsten Bedingungen  anzupassen.

Was ist nun Bildung wirklich? Nehmen wir einen  Vergleich: ein Klumpen Ton soll geformt, soll gebildet werden. Eine solche Bildung setzt voraus, dass es einen Bildner gibt und einen Stoff, der gebildet werden soll. Solche Bildung heisst, dass der Bildende die Fähigkeit besitzt, zu formen, zu gestalten und auch, dass er das Material und seine Eigenschaften kennt. Das aber heisst: dass er Herr der Situation ist! Dann braucht er Zeit und, was beim Bilden von Material wichtig ist, Lust und Kraft dazu. Hat er alles das  nicht und man zwingt ihn zu „bilden“, so wird er  versagen oder er wird Minderwertiges  herstellen.

Nehmen wir einen anderen, noch gültigeren Vergleich: den der Nahrungsaufnahme. Das ist die ursprünglichste Bildung. Nahrung wird verzehrt, Ungeeignetes wird ausgeschieden, Geeignetes wird angeeignet, damit es keine Stoffwechselgifte und  Ablagerungen gibt. Denn alles, was nicht geeignet ist  für den individuellen Organismus, wird zum  Gift. Das Essen von Nahrungsmitteln in von aussen bestimmten Mengen erzwingen, um  den Organismus mit einem Maximum an nützlichen Stoffen zu füllen, setzt die Logik einer bewussten Zerstörung durch Selbstvergiftung  voraus.

Genau diese Verhältnisse gelten aber auch für  intellektuelle, für geistige, für seelische Bildung. Wissen ist Stoff, das ist bekannt. Kann Wissensstoff nicht in individuelles Eigentum verwandelt, das heisst verdaut werden, wird er zur Belastung für die Seele und den Leib.

Fatal ist die moderne Denkweise, die sich heute überall einschleicht, dass der Mensch eine Art biologischer Computer sei. Und Bildung sei nichts anderes als die beliebige Speicherung dieses Wissens.

Wobei auch der Computer seine Bedingungen hat, die nicht ungestraft missachtet werden dürfen.

Der Mensch ist aber nicht ein Speichergerät, sondern ein Individuum. Und Lernstoff geht nicht nur in das zentrale Nervensystem hinein, in das Gehirn, sondern auch in die Seele, die erleben will, was sie aufnimmt, damit sie daran reifen kann.  Bildungsinhalt muss mit Interesse erlebt werden, das heisst durch warme Anteilnahme  sich beziehen auf das seelische und leibliche Leben des Schülers.

Nicht nur in das Gehirn, sondern in den ganzen Leib mit allen seinen Organen geht Bildung hinein und bildet auch ihn. Wer will leugnen, dass nicht der ganze Stoffwechsel vom Lernen betroffen ist und mit ihm der  sich entwickelnde Körper?

Wollen wir Bildung als die  Aneignungsfähigkeit des Menschen verstehen, welche alle daran beteiligten Kräfte und Organe im Gleichgewicht zu betätigen hat, um Fremdes, von aussen Kommendes sich gedeihlich einzuverleiben, dann müssen wir zum angeborenen Urprozess dieser Fähigkeit gehen, zum kindlichen Spiel.

Spiel ist nicht anderes als die dem menschlichen Individuum verliehene naive Grundfähigkeit, geistige Nahrung so aufzunehmen, dass die geistig-intellektuelle Ebene parallel zu der seelisch gemüthaften wie zu der leiblich-organischen in einem  gedeihlichen Gleichgewicht sich verhält.

Am echten und freien Spiel können wir ablesen, was Bildung ist und sein soll.

Der daraus abzuleitende Bildungsbegriff setzt dann voraus, dass echte und damit für das Kind gedeihliche Bildung entsprechend dem Urbild des Spieles sowohl die intellektuell-geistige, wie die seelische und auch die leibliche Ebene im Gleichgewicht  zu betätigen haben. Damit ist gesagt, dass  die quantitative Zunahme von Wissen einher zu gehen hat mit daran entwickelter Qualität seelisch-charakterlicher Reifung und zugleich der Beachtung leiblichen Wohlergehens während der körperlichen Entwicklung.

Der Logik dieser Begriffsbildung kann nichts Vernünftiges entgegen gehalten werden. Wer es dennoch versucht,  leugnet die allgemein bekannten menschlichen Grundbedingungen.

Wir setzen uns also ab von den Vorstellungen und Handlungen, die glauben, Bildung per Dekret und ohne Kenntnis der wirklichen Verhältnisse in den betroffenen Menschen  erzeugen zu können.

Wir setzen voraus, dass das Spiel des Kindes das Urbild und Modell der Bildung aus der inneren Entwicklungslogik ist.

Wir wollen dieser Entwicklungslogik folgen und aus ihr ablesen, wie Bildung organisch, gleich der Eiche aus der Eichel, aus der Anlage des Spieles hervorzugehen vermag.

Wir folgen weiterhin der Logik, die sich aus dem Gesetz der Embryonalentwicklung ergibt, genannt das biogenetische Grundgesetz nach Haeckel. Diese Logik besagt, der Mensch wiederhole mit seiner Entwicklung die ganze vorherige biologische Entwicklung. Daraus folgt, dass auch die darauf folgende Entwicklung der Seele eine Entfaltung vorhergehender Entwicklungsstufen ist oder wenigsten sein möchte, wenn die Umgebung es gestattet.

Dieses Gesetz war in früheren Zeiten als psychogenetisches Grundgesetz bekannt. Durch meine langjährige Arbeit mit vor allem älteren Kindern im Spielalter tauchte es unübersehbar auf. Die Bestätigung meiner Forschung erhielt ich durch die Beschreibung der Entwicklung der Physik im Spiel der Kinder, wie sie Martin Wagenschein uns gibt (Kinder auf dem Wege zur Physik). Und weiterhin durch das Buch „Geistige Wiederholung“ von Frederik Adama van Scheltema, einem einst sehr bekannten Kulturforscher.

Wenn wir eine Eichel betrachten und nicht wissen, was aus ihr zu werden bestimmt ist, können wir an ihr die Eiche nicht erkennen.

Das heisst, die Gesamtheit der zukünftigen Eichbaums ist in einer diesem ganz unähnlichen Zustand veranlagt, aber sie kann als ausgewachsener Baum nur zur Erscheinung kommen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Sonst, so war es früher üblich, ist die Eichel ein Futter für die Schweine.

Wer es für möglich hält, das Spiel des Kindes, so wie es veranlagt ist und noch rein erhalten von den Ausbeutungen und Verzerrungen der modernen Zivilisation, sei ein Same, eine Eichel künftiger und menschenwürdiger Bildung, der mag den hier begonnenen Weg weiter verfolgen.

Wobei zu bedenken ist, dass Spiel bei dem heutigen Kind am verschwinden ist. Die mangelnde kulturelle Umgebung, vor allem als für das Kind erlebbare handgreifliche Arbeit und das Überhandnehmen der Surrogate elektronischer Art wie die Überreizung durch die technische Welt  tragen zum Versiegen des echten kindlichen Spieles bei. Spielabtötend ist auch das ständige ängstliche Beaufsichtigen der Kinder durch Erwachsene, vor allem durch die Eltern und das Eingrenzen des Kindes auf das, was Erwachsene als vernünftig betrachten.

Der Mensch und vor allem das Kind  ist nicht vernünftig, sondern  es will alles ausprobieren, auch das zunächst Unvernünftige. Der vernünftige Mensch schliesst aus, was er nicht kennt und reduziert die Welt auf eine kleine Insel des für ihn Überschaubaren.

Aber jeder weiss inzwischen, dass das Unüberschaubare um uns alle herum und in der Welt unaufhörlich wächst. Wie sollen die Heranwachsenden später im Leben zurecht kommen und gar zu neuen Lösungen in der menschlichen Entwicklung beitragen, wenn sie nicht Möglichkeiten erproben, frei und ohne Aufsicht oder gar im Zusammenspiel mit kundigen und wagemutigen Erwachsenen?

Ist es nicht besser, sie tun es mit unserer Unterstützung und unserem begleitenden Mut, als dass wir sie dann später verlieren im virtuellen Labyrinth der Elektronik oder gar in den Drogen?

 

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